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Pyramidale Aufgaben

 

Zunächst bleibt Bruno Radwitz nach dem Einzug der amerikanischen Truppen als Oberbürgermeister im Amt. Noch im April 45 kümmert er sich darum, dass die Weiden auf den Wiesen an der Saale geköpft werden, damit sie nicht die Treidelschifffahrt behindern. Nach dem 12. April setzt er Walter Hoffmann als Polizeichef ein, was unter den Antifa-Leuten ein deutliches Murren hervorruft. Am 23. Juli 1945 ernennt der russische Militärkommandant Paul Schiele aus Roßbach zu seinem Nachfolger.

 

Vernichtung der NSDAP-Unterlagen

Unverzüglich geht man daran, die schriftlichen Zeugnisse und Dokumente der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu vernichten. Davon berichtet ein Brief an den Bürgermeister Schaffernicht vom 16. Mai 1945, wo es heisst:

"Bindernagel und Rauchenbach haben tagelang bei Tag und Nacht die Parteiutensilien der verantwortlichen Naumburger Führerschaft in der Garage Weißenfelser Straße, gegenüber der Realschule, heimlich verpackt und beiseite geschafft. ..."

Einige Nationalsozialisten müssen bei der Entschärfung der Bomben Ende April auf dem Friedhof mitarbeiten. Dies war von antifaschistischen Kreisen angeregt worden, die darüber Beschwerde führten,

"daß die riesig große Zahl nationalsozialistischer Funktionäre in der Stadt spazierengehen kann, während ehrliche antinationalsozialistisch eingestellte Arbeiter … in den Aufräumungsarbeiten beschäftigt werden …" (Wallbaum 18.4.1945).

 

 

Meierei C. Bolle AG,
Schokoladen-Werk Naumburg,
genannt Schokoladenfabrik Bolle,
heute Rosa-Luxemburg-Straße (2009)

Am Ende des Monats wird "mit großer Genugtuung" aufgenommen, daß maßgebende Führer beim Aufräumen des Friedhofs herangezogen worden sind (Wallbaum 27.4.1945).

 

 

Selbstbedienung im Heeresverpflegungsamt

Die Bürger ahnen, was auf sie zukommt: Not und Entbehrungen. Sie wissen aber, auf dem Gelände des Heerverpflegungsamtes (HVA) befinden sich in Silo 1 und 2 noch gewaltige Vorräte an Getreide und im Silo 3 Ölfrüchte.

In der Bolle Schokoladenfabrik lagern große Mengen Butterschmalz und Butter. Kurzerhand gehen sie am 12. April zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs über. Einige schleppen die Beute mit dem Handwagen weg.

Besonders die Ereignisse um das Heeresverpflegungsamt spielen in vielen "Erinnerungen" eine herausgehobene Rolle.

 

Heeresverpflegungsamt
Kroppentalstraße 7-9, 11-13

9 Lagerhäuser, 1 Kraftfahrzeughalle, 1 Pferdestall mit offenen Wagenschuppen, 2 Familienhäuser, 1 Verwaltungsgebäude, 1 Unterkunftshaus mit Fernheizung, 1 Brennmittelschuppen, 1 Pförtnerhaus, 1 Schuppen mit Packmittel, 3 Spritzenhäuser, 3 Feuerlöschbehälter unter der Erde, 1 Tanksäule mit Behälter von 5 000 Liter

 

Karte mit Heeresverpflegungsamt (links oben), Hindenburg-Kaserne (links neben dem Eisenbahngleis) und Heereszeugamt (rechts neben dem Eisenbahngleis)


 

"Es war die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch,"

lesen wir bei Jürgen Dorka (2006),

"als wir uns aus dem Heeres-Verpflegungsamt mit Lebensmitteln eindeckten, während im brennenden Gebäude die Konservendosen "explodierten", wir uns aus der Schokoladenfabrik Bolle in der heutigen "Rosa-Luxemburg-Straße" über fetthaltige Rutschen aus eingeschlagenen Fenstern mit Butter versorgten oder aus dem Heereszeugamt u. a. mit Kugellagern eindeckten, um uns fahrbare Untersätze zu bauen. Es war die Zeit, als die Russen von bewachten Kohlenzügen am Ostbahnhof abgelenkt werden mussten, damit andere und ich die begehrten Briketts von den Güterwagen werfen konnten, um zu Hause notwendigen Brennstoff zum Kochen zu haben oder die Stube heizen zu können."

Ehemaliges Heeresverpflegungsamt
an der Schönburger Straße (2007)

Zum genauen Hergang der Selbstversorgung im Heeresverpflegungsamt gibt es etwas unterschiedliche Darstellungen. Hubert Bjarsch schreibt in Ein Überlebender, unverschämt. Eine heiße Geschichte (92):

"Kaum waren sie da, sorgten die Amis für große Aufregung in der Stadt, und zwar für angenehme Aufregung: Sie öffneten die Silos des Heeresverpflegungsamtes zur Selbstbedienung für die Bevölkerung. Wie es schien, war nun ganz Naumburg unterwegs zu den großen Fressalien-Speichern, die meisten Leute mit Leiterwagen."

Im Widerspruch hierzu steht die öffentliche Aufforderung des Oberbürgermeisters der Stadt, die entwendeten Dinge aus dem Heeresverpflegungsamt zurückzubringen. Ein anderes Mal sind es Telefonapparate, nebst allem Zubehör, die aus dem Heereszeugamt entwendet wurden und wieder umgehend zurückgegeben werden sollen. - Sei es drum. Wahrscheinlich nehmen die Erinnerungen auf Ereignisse an verschiedenen Tagen Bezug.

Gehamstert wurde aber, was unter anderen einem Erlebnisbericht von Fritz Burkhardt zu entnehmen ist: "Durch meine Tätigkeit bei der Firma Jähnert wusste ich, dass während des Krieges viele Waren gehortet waren. Darüber gab ich dem Antifa-Komitee Hinweise, z. B. Jungmichel hatte große Schuhbestände in Goseck und Eula. In der Apotheke in der Herrenstraße hatte der Verwalter Heidenreich einen Raum freigegeben. Hier waren große Mengen von Stoff gelagert. All diese Sachen wurden im Handel verkauft." (Burkhardt)

 

Oswald Schaffernicht als neuer Oberbürgermeister

Am 10. Mai 1945 erfolgt durch die US-Militäradministration offiziell die Absetzung von Bruno Radwitz. In einer Verfügung von Oswald Schaffernicht ist von der "Inhaftnahme des Oberbürgermeisters Radwitz" die Rede. Formal erfolgt der Abgang von Radwitz als "Beurlaubung" durch Schaffernicht. Noch ein Jahr zuvor, am 27. April 1944, benannte Radwitz seinen Kämmerer zusammen mit Flachsbarth für die Zeit seiner Abwesenheit vom 1. Mai bis 27. Mai 1944 zur "Wiederherstellung seiner Gesundheit" als seine Vertreter.

Am 30. Mai 1945 teilt das "Verkündigungsblatt des Oberbürgermeisters der Stadt Naumburg (Saale) Nr. 11" (Authorized by Allied Military Government") die Einsetzung von Oswald Schaffernicht als Oberbürgermeister und Stadtkämmerer sowie von Paul Sauerbrey als Stellvertretenden Bürgermeister mit. Die Bauratstelle bleibt noch unbesetzt. Sie wird am 4. Juni ausgeschrieben. "Frühere Mitglieder der NSDAP werden von der Militärregierung nicht berücksichtigt", lässt der Oberbürgermeister öffentlich verlauten. Die feierliche Vereidigung von Schaffernicht erfolgt am 6. Oktober 1945.

 

 


Georg Oswald Schaffernicht

wurde am 18. August 1893 in Hohenmölsen geboren. Der Vater arbeitet als Bergarbeiter und die Mutter ist Hausfrau.

Nach Absolvierung der ersten und zweiten Verwaltungsprüfung beginnt er 1907 seine Laufbahn in der Gemeindeverwaltung Hohenmölsen als Expedient und Buchführer. Vermählung mit Paula, geborene Krug, geboren am 1. September 1891. 1914 tritt er als Oberstadtsekretär in die Stadtverwaltung Naumburg ein. Während des Krieges tut er Dienst im 1. Garderegiment. Ein Kopfschuss fügt ihm schwere Verletzungen zu. Außerdem erkrankt sein Herz. Von 1924 bis 1945 übernimmt er die Aufgaben des Stadtkämmerers. 1936 beträgt sein Jahresgehalt 8 180 Reichsmark. Seit 1934 gehört der Finanzexperte dem NSV und dem Reichsbeamtenbund an. Seine Wohnung befindet sich in der Sedanstraße 15 (August-Bebel-Straße).

Auf Befehl des russischen Stadtkommandanten amtiert der erfahrene Finanzfachmann ab 12. Juli 1945 als Oberbürgermeister der Stadt. In einer Beurteilung über ihn heißt es:

"Gerecht als Vorgesetzter, kollegial auch seinen Untergebenen gegenüber."

Mit Übernahme der Aufgaben des Oberbürgermeisters erhält er zunächst seine Bezüge als Kämmerer weiter. Ihm kommen rechtliche Bedenken, ob er auf die Dienstbezüge des Oberbürgermeisters verzichten kann. Er bittet, die Dienstbezüge zu prüfen. Eine Dienstwohnung "kommt nicht in Frage, da ich ein eigenes Haus [Sedanstraße 15 / August-Bebelstraße 15 - Bild 2007] bewohne", schreibt Schaffernicht.

Nicht wenige Zuständige - oder vielleicht nur Neugierige ? - interessieren sich nach 1945 für den Werdegang und seine Mitgliedschaft in Parteien und Organisationen während der Naziherrschaft. Im Ergebnis entsprechender Überprüfungen stellte sich immer wieder heraus, Oswald Schaffernicht gehörte nicht der NSDAP, SA, SS, dem Stahlhelm oder dem Wehrwolf an.

1945 wird er Mitglied der SPD, dann der SED. Am 17. Juni 1949 tritt er wieder aus. Zwischen Oswald Schaffernicht und der SED-Fraktion im Stadtparlament gab es ernste Diskrepanzen. Darauf deutet eine Bemerkung in den Verhandlungen der SED-Kreisparteikontrollkommission am 23. Mai 1950 hin. Herr [Fritz] Burghardt [richtig wahrscheinlich: Burkhardt] äußert, obwohl Schaffernicht von der LDP und CDU als Bürgermeister vorgeschlagen wurde, machten wir - die SED-[Ortsorganisation] - ihn darauf aufmerksam, dass er nicht annehmen dürfte. Gleichwohl erfolgte innerhalb von Stunden durch den Landesvorstand [der SED] seine Bestätigung. (Vgl. Bezirksparteiarchiv)

In diesen Jahren hat er viel zu tragen. Sein Vater Gustav stirbt 1944 und seine Mutter Alma 1946.

Am 21. November 1949 wählen die Stadtverordneten Otto Becker (CDU) zum neuen Oberbürgermeister.

Der Chefarzt des Naumburger Krankenhauses Dr. Fabian diagnostiziert am 25. März 1950 eine "akute fieberhafte Bronchitis". Mit der Amtlichen Bekanntmachungen der Stadt Naumburg (Saale) Nr. 44 vom 14. April 1950 ergeht die Mitteilung, dass der ehemalige Oberbürgermeister am 10. April 1950 gestorben ist.

 

 

Mit der Beurlaubung von Radwitz muss zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Rathauses ein neuer Geschäftsverteilungsplan aufgestellt werden. Oswald Schaffernicht verantwortet die Haupt-, Schul-, Kranken-, Steuer- und Finanzverwaltung, das Gesundheits-, Kultur- und Rechnungsprüfungsamt, die Volks- und Jugendertüchtigung sowie das Volksbad. Rechtsanwalt Sauerbrey steht dem Rechts-, Quartier-, Wirtschafts- und Ernährungsamt sowie dem Standesamt, der Polizeiverwaltung, der Grundstücks- und Bauverwaltung, dem Vermessungswesen, der Stadtgartenverwaltung, der Stadtsparkasse und den Stadtwerken vor. Rechtsanwalt Dr. Ritter leitet die Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge, die Personenschäden, das Wohlfahrts- und Jugendamt, die Fahrbereitschaft, die Stiftungen, das Versicherungsamt, die Waisenversorgungsanstalt sowie die Friedhofs- und Schlachthofverwaltung.

 

 

Neuanfang

"Der Kampf hier in Naumburg ist aus. Wann wird der allgemeine Zusammenbruch erfolgen?", fragt Oberlandesgerichtspräsident Paul Sattelmacher nach dem 12. April `45. Und weiter: "Eine tiefe Niedergeschlagenheit hat sich aller Menschen bemächtigt, wenn man auch ein Aufatmen bemerken kann, dass es zu diesem schweren Kampf um Naumburg nicht gekommen ist und der Stadt damit Schweres erspart geblieben
ist." (SE 57)

Der allgemeine Zusammenbruch kommt nicht, dafür sorgt Oswald Schaffernicht. Aber der neue Oberbürgermeister steht vor pyramidalen Aufgaben. Das Flüchtlingsproblem muss gemeistert werden. Die Infrastruktur der Stadt ist starkt beschädigt, funktioniert nur mit grossen Einschränkungen. Eine mit Augenmaß durchgeführte Entnazifizierung ist politisch geboten. Sie bringt viele Konflikte. Sie zehrt an seinen Kräften. Mit der Flucht von Mitarbeitern nach dem Westen entsteht personell eine schwierige Situation. Die Finanzlage gestaltet sich zunehmend katastrophal. Rapide sinken seit April die Steuereinnahmen. Hinzu kommt, dass laut Verordnung des Präsidenten der Provinz Sachsen mit Wirkung vom 1. April 1945 die Zahlung folgender Beträge an die Stadt Naumburg eingestellt wird: Bürgersteuer- und Ausgleichbeträge (437 580 RM), Schlüsselzuweisungen (235 114 RM), Reichszuschüsse zu den Kosten der Ernährungs- und Wirtschaftsämter (81 969,60 RM), Staatszuschüsse zu den Kosten der Gemeindepolizei (132 000 RM); macht in Summe einen Ausfall von 886 693,60 RM. (Laut Verfügung 19.10.1945)

 

Unterhaltsbeiträge der Stadt Naumburg
 
für Naumburger
für Flüchtlinge
Januar 1945
190 225,09 RM
332 953,48 RM
Februar 1945
195 742,64 RM
386 908,56 RM
März 1945
183 476,46 RM
540 825,75 RM
April 1945
186 526,95 RM
414 563,18 RM

 

Darauf reagierte die Stadtverwaltung mit Sparmaßnahmen. Aber die Löhne und Gehälter werden nicht angetastet. Die "früher in Deutschland bestehenden Lohn- und Gehaltssätze für die Beschäftigen aller Unternehmen und Behörden, ebenso die Zuschlagszahlungen - Wohnungsgeld und Dienstalterzulage - sind beizubehalten". Eine neunzehnjährige Pflegerin im Krankenhaus Naumburg verdient 1945 91,11 RM pro Monat plus 24,00 RM Wohngeldzuschuss, ein Dienstjahr weiter erhält sie 100,45 RM pro Monat plus 24,00 RM.

Hans Vogel vom Vorstand der SPD kennzeichnet die Situation am 18. Mai 1945 aus dem Londoner Exil treffend so:

"Das deutsche Volk steht vor einer übermenschlichen Aufgabe. Es kann nicht abtreten. Es muss sich eine neue Lebensweise erarbeiten."

Wie schaffen das die Naumburger? Zunächst müssen sie strikt die Befehle der Militärregierung befolgen. "Eisenbahn, Privatkraftfahrzeuge und Privatkrafträder dürfen nicht ohne besondere Erlaubnis benutzt werden. Die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist erlaubt. … Die Ansammlungen von mehr als 5 Personen in der Öffentlichkeit oder in Privatwohnungen zu Diskussionszwecken ist verboten." Sendeapparate, Schusswaffen und sonstige Kriegsmaterialien sind abzugeben. Unzensierte Zeitungen, sonstige Veröffentlichungen dürfen weder gedruckt, verteilt noch angeschlagen werden. In der amerikanischen Besatzungszone findet die "Hessischen Post" eine weite Verbreitung. In der Stadt Naumburg kündigt man eine flächendeckende Verteilung an, das heißt ein Exemplar pro Wohngebäude. (Vgl. Matysiak 85)

Das Gesetz Nr. 7 der Militärregierung im Kontrollgebiet des Obersten Befehlshabers verlangt die Entfernung aller nationalsozialistischen Abzeichen von Amtssiegeln.

Alle Angehörigen der Wehrmacht, der Waffen-SS und des Volkssturms müssen sich laut einer Bekanntmachung vom 12. April 1945 bis zum übernächsten Tag bei der amerikanischen Militärbehörde in Naumburg melden. "Ich hatte erfahren", erzählt Fritz Burkhardt, "dass an der Neustraße eine Falle wäre, wo Heimkehrer, die sich von der Truppe abgesetzt hatten, von den Amerikanern gefasst worden sind."

Nach dem 12. April kommt der Post- und Bahnverkehr zum Erliegen. Täglich ereignen sich Versorgungsausfälle mit Strom und Gas. In vielen Haushalten gibt es überhaupt keinen elektrischen Strom. Die Banken bleiben geschlossen. Im April beginnt man in der Marienstraße mit der Reparatur der Dächer. Von 19 bis 7 Uhr besteht ein "Ausgehverbot". Am 12. Mai erfolgt die Aufhebung der Verdunklungspflicht. Noch sind viele Stadtteile vom Trinkwasser abgesperrt. Diebstahl auf Kirschanlagen wird vom Amerikanischen Militärgericht als Plünderung bestraft.

 

"New Street Names"
(Verkündigungsblatt 30.5.1945)

Old Name - New Name
Adolf-Hitler-Straße - Flemminger Weg
Hermann-Göring-Siedlung - Am Birkenwäldchen
Horst-Wessel-Siedlung - Am Schützenplatz
Wilhelm-Frick-Straße - Martinstraße
Dietrich-Eckhardt-Straße - Utastraße
Ostmarkstraße - Teufelsgraben
Sudetenstraße - Westring

 

Ein Tag nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen treffen sich im Oberlandesgericht die Herren Beyer, Dr. Meusel (Oberlandesgerichtsrat am OLG Naumburg) Liebel, Grußendorf sowie Wanke (Landgerichtspräsident, Kaiser Wilhelm-Platz 1) mit dem Oberlandgerichtspräsidenten Paul Sattelmacher. Zum Schluss ihrer Unterredung über das Gesetz Nr. 1 der Militärregierung kommt Generalstaatsanwalt Hermann Hahn (Kösener Straße 28) hinzu. Er berichtet, dass gestern (12. April) die gesamte linke Häuserseite der Kösener Straße für die amerikanischen Soldaten geräumt wurde und deren Bewohner in den gegenüberliegenden Häusern Unterschlupf suchen mussten. "Aber in der Zeit von 8.00 bis 10.00 Uhr morgens musste Hahn aus dem Fenster des Zimmers, in dem er auf einem Stuhle übernachtet hatte, mit ansehen, wie die einquartierten Soldaten alles was nicht niet- und nagelfest war herausschleppten, auf Autos warfen und damit abfuhren. Er ist dann in seine Wohnung gekommen, in der alle Behältnisse gewaltsam erbrochen und zum Teil ihres Inhalts beraubt waren. Der gute Hahn war völlig verstört besonders darüber, dass man ihm neben Wäsche, Kleidern, Schuhen usw. alle Erinnerungsstücke an seinen im Krieg gefallenen Sohn genommen hatte." (Sattelmacher)

Pfarrer Konrad Zippel berichtet zum 30. April 1945, dass er versuchte, sein Haus von der Beschlagnahme frei zu bekommen, was ihm nicht gelang.

Natürlich ist der Heil-Hitler-Gruß verboten. Die Militärangehörigen sollen sich so begegnen, wie es vor 1933 üblich war. Und die Zivilbevölkerung muss die Wehrmachtsangehörigen nicht mehr grüßen. Nazihymnen dürfen jetzt weder im privaten noch im öffentlichen Raum gespielt werden (Verkündigungsblatt 9.6.1945).

 

Frau Poschinger (2006):

"Die Ernährungslage war katastrophal. Meine Mutter fuhr aufs Land und verkaufte den Bauern Schmuck und andere wertvolle Dinge, um etwas zu essen zu besorgen. ... Alles Essbare wurde angebaut, Kaninchen gehalten, altes Brot aufgehoben, Kartoffelschalen zu Mehl verarbeitet. Arme Ritter gab es häufig, oder eine Suppe aus altem Brot. Beides habe ich gehasst. … Schokolade war unbekannt, bis es später durch Pakete aus dem Westen zu Weihnachten zusammen mit Orangen auf unserem Gabentisch landete. In den ersten Hungerjahren retteten uns Care-Pakete amerikanischer Quäker." Wie das Essen, war die Gesundheit ein seltenes Gut", berichtet die Zeitzeugin weiter. "Blaseninfektionen, Lungenentzündungen, Mumps, Windpocken, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten machten uns und unseren Müttern zu schaffen. Meine Mutter arbeitete zunächst in einem Behelfskrankenhaus als Schwester, das vorübergehend in einer Schule eingerichtet wurde. Dort lagen viele Flüchtlinge und Vertriebene mit TBC und anderen ernsten Erkrankungen. Viele von ihnen starben an den Folgen der Infektionen oder an Unterernährung. Wir Kinder vermochten uns dem nicht ganz zu entziehen. Auch wenn wir die Tragweite dieser schlimmen Ereignisse nicht wirklich begriffen."

(Poschinger 2006)

 

Der Neuanfang ist schwer. Besonders die Ernährungslage der Naumburger - darunter Kriegsgefangene, verwundete Soldaten, die etwa 20 000 Flüchtlinge (1945) und mindestens 400 Obdachlose - ist äußerst kritisch. Die Stadtverwaltung organisiert die Abgabe von Eiern und kümmert sich um die Versorgung der Bürger mit Salz, Magermilch, 68 Gramm Quark pro Bürger und Woche - am 14. Juni 1945 - oder Rasierseife. Werdende Mütter erhalten auf die "Berechtigungskarte werdende Mütter" wöchentlich zusätzlich 75 Gramm Butter. Kinderzwieback kann nur im geringen Umfang abgeben werden. Es darf dieser nur an Kinder unter drei Jahren abgegeben werden.

Im Juli 45 beschließt die Sowjetische Militäradministration (SMAD) neue Ablieferungsnormen. Für Getreide sind es 10, Kartoffeln 55 und für Ölfrüchte 10 Dezitonnen pro Hektar. Nach Ablieferung des Pflichtsolls können die Bauern über die verbleibenden Erzeugnisse frei verfügen. - "Nach dem Einmarsch der Amerikaner im April 1945 wurde ich", erzählt gut zwanzig Jahre später Hermann Hoffmann, "vom Fünferausschuss für das Arbeitsamt vorgeschlagen und vom Ami-Kommandanten eingesetzt. Ich erhielt eine schriftliche Vollmacht und konnte mit dem Fahrrad im Kreisgebiet umherfahren. Meine Aufgaben waren: für Arbeitsaufnahme, besonders auf dem Lande sorgen, die wilden Schlachtungen unterbinden, Arbeitsverweigerer bestrafen, Stand der Feldbestellung kontrollieren. Das war eine schwere Aufgabe. Oft wurde ich vom Hof gejagt, bes. in Neuflemmingen. …. Dort wurde das Inspektorhaus für Arbeiter freigemacht. Alle 2 Tage mußte ich dem Kommandanten berichten, über die Bestellung der Felder und über die Schlachtungen."

Der Mangel muss verwaltet werden. Auto- und Fahrradbereifung werden zentral bei der Stadtverwaltung erfasst. Es erfolgt die Abgabe von 10 Zigaretten auf eine Raucherkarte, teilt der Oberbürgermeister am 12. November 1945 mit. Stadtkommandant Oberstleutnant Jeremin weist am 6. September 1945 auf die Sperrstunde hin, die durch Ertönen der Sirene angekündigt wird. Mitte Mai 45 dürfen sich die Naumburger Bürger mit Passierschein in einem Umkreis von 6 Kilometern bewegen. Die Ausgehzeit ist auf bis 23 Uhr ohne Passierschein begrenzt. Seit der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1945 gilt als Ortszeit die Moskauer Zeit. Am 18. Dezember 1945 erfolgt die Aufhebung der Ausgehbeschränkung.



Amt für Arbeit und Sozialfürsorge Naumburg

20. Dezember 1948

 

 

 

Männer
Frauen
Gesamt

Ostumsiedler

2 292
3 328
5 620

Westumsiedler

43
105
148

Gesamtbevölkerung

18 197
22 047
40 244


     
Beschäftigte
8 789
4 961
13 750


Vollzeitarbeitsfähige, arbeitssuchend

 

160
245
405

 

Ein fast vergessenes Thema sind die Veränderungen in den Geschlechter- und Partnerschaftsbeziehungen. Im Jahr 1933 legen in Naumburg neunzehn junge Frauen das Abitur ab. Nur eine von ihnen beginnt ein Studium. Viele Frauen kehren nach 1933 an den Küchenherd zurück. Die Arbeitsmarktlage und -politik gebieten dies. Aber während des Krieges ändern sich die Rolle und damit das gesellschaftliche Bild der Frau in der Gemeinde schnell. Frauen müssen jetzt typische Männerarbeiten übernehmen. 70 Prozent der männlichen Jugendlichen sind vom Krieg betroffen. Sie kehren oftmals nicht oder erst viele Jahre später in die Heimat zurück. Eberhard Kaufmann schreibt 2005 im Naumburger Tageblatt über die Moritzstraße eindrucksvoll:

"Viele hier wohnende Männer sind im Krieg gefallen, und der Mangel der Nachkriegsjahre ließ die einst blühende Straße verfallen."

Doch im Verhältnis von Mann und Frau gab es noch ganz andere Erscheinungen. Unter dem 18. Mai 1945 lesen wir in den Tagebuchaufzeichnungen von Paul Sattelmacher: "Es ist schmachvoll zu sehen, wie sich die deutschen Weiber den amerikanischen Soldaten, auch den Negern geradezu in die Arme werfen. Durch den Bürgergarten mag ich nicht mehr gehen, da im Buschwerk zu Seiten der Parkwege Weiber in Gegenwart ihrer 5- bis 6-jährigen Kinder sich in widerwärtigster Form Soldaten und Fremdarbeitern geschlechtlich hingeben."

Ende Juni 1945 besichtigt eine Delegation aus Naumburg, darunter drei Pfarrer, das KZ Buchenwald. (Vgl. Knorr) Erschüttert von den Verbrechen der Nationalsozialisten kehren sie nach Hause zurück. Zum 9. September - einem Sonntag - lädt der bekannte Naumburger Sozialdemokrat Eugen Wallbaum, jetzt Dezernent für Volksbildung, in den Saal der "Reichskrone" ein. In einer Feierstunde werden die Opfer des Naziregimes geehrt, Menschen, die in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern ihr Leben ließen.

 

Amt für Arbeit und Sozialfürsorge Naumburg. Situationsbericht des Amtes für Arbeit und Sozialfürsroge Naumburg. 20. Dezember 1948. Rat der Stadt. Pressestelle. Verschiedene Berichte über wirtschaftlich Erreichtes ..... Stadtarchiv Naumburg, Archivnummer 1131, Blatt 13

Aufstellung derjenigen Opfer des Faschismus [der Stadt Naumburg a.S.], welche in der Zuteilung der Lebensmittelkarten in die nächst höhere Verpflegungsstufe eingegliedert werden. 18. Juni 1946

Bekanntmachung an die zivile Bevölkerung. Naumburg an der Saale, 12. April 1945, 19 Uhr, gez. Die Militärregierung. Druck: Lippert & Co. Naumburg  / Saale

[Bezirksparteiarchiv] Akte vom Bezirksparteiarchiv der SED Halle: Höhne Walter. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Merseburg 49 344, IV / 8 / 464

Bjarsch, Hubert: Ein Überlebender, unverschämt. Eine Heiße Geschichte. Frieling-Verlag, Berlin 2006

[Burkhardt, Fritz] Bericht des Genossen Fritz Burkhardt über seine Erlebnisse und seine Tätigkeit nach 1945. Naumburg, ohne Jahresangabe, unveröffentlicht

Dorka, Jürgen: Kino und Tomatenschlachten. Internetseite des Stadtmuseums Naumburg, www.museumnaumburg.de, Januar 2006

Knorr, Michael: Naumburg 1945. Naumburg, den 3. Februar 2006, unveröffentlicht

[Matysiak, Stefan:] Die Entwicklung der ostdeutschen Tagespresse nach 1945. Bruch oder Übergang? Dissertation zur Erlangung des sozialwissenschaftlichen Doktorgrades der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen vorgelegt von Stefan aus Zeven (Kreis Rotenburg/Wümme) Göttingen, 2004

Poschinger, Barbara (1942-1947): Kindheit im Schatten des Krieges. Internetseite des Stadtmuseums Naumburg, www.museumnaumburg.de, Januar 2006

[SE] [Sattelmacher, Paul:] Auszug aus den persönlichen Aufzeichnungen des Oberlandesgerichtpräsidenten Prof. Dr. Paul Sattelmacher (13.4.1879-1947), unveröffentlicht

Wallbaum, Eugen (Naumburg, Brunnengasse 9), Brief an die Polizeidienststelle der von alliierten Truppen befreiten Stadt Naumburg, 27. April 1945, unveröffentlicht

Wallbaum, Eugen (Naumburg, Brunnengasse 9), Brief an Herrn Bürgermeister Oswald Schaffernicht am 15. Mai 1945, unveröffentlicht

Zu Konrad Zippel siehe: Martin Onasch: "…wir atmen alle auf …" Ein Brieftagebuch über das Kriegsende 1945 in Naumburg / Saale, Jüdengasse Verlag, Naumburg (Saale) 1995

 


Autor:
Detlef Belau


Geschrieben: April 2005.
Aktualisiert: 3. November 2009
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