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Hans Schueler:
Selbstreinigungsjustiz. In alter Rabentraulichkeit. Der Fall Jung - ein Lehrbeispiel gescheiterter Vergangenheitsbewältigung. [Auszug]

Aus: Die Zeit, Hamburg, 26. Oktober 1990, Nummer 44

 

"Wir wollen den Justizanteil an stalinistischer Deformation, zu dem wir uns bekennen, selbst bereinigen und sind dazu kooperationsbereit." Diesen Satz von ebenso unüberbietbarer wie gewiß unbewußter Selbstironie sprach vor wenigen Monaten ein noch amtierender Oberrichter am Stadtgericht Berlin auf der Gründungsversammlung des DDR-Richterbundes. Selbstreinigung der Justiz eines Unrechtsstaates? Inzwischen dürfte die Mehrzahl der Personalakten bereits gesäubert sein; an Persilscheinen für eine angemessene Fortsetzung der Karriere wird es nicht mangeln.

Dennoch ist keiner ganz vor der Wahrheit sicher; Die Justizjuristen der alten Bundesrepublik wissen es, freilich nur mehr aus der bedrückenden Erinnerung an die Generationen ihrer Väter und Großväter im Amt. Historische Parallelen drängen sich auf. Zuweilen, wenn auch immer seltener, geht die NS-Zeit wie ein Wetterleuchten sogar noch durch unsere Gerichtssäle.

Nur ein simpler Beleidigungsprozeß vor dem Landgericht in Bonn erinnerte kürzlich an eine der hervorragenden Gestalten, die die deutsche Justiz unter Hitler repräsentierten: den längst verstorbenen Oberlandesgerichtspräsidenten von Breslau und vormaligen Berliner Generalstaatsanwalt Friedrich Jung. Ein Jahr vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war er noch Rat am andgericht in Hildesheim. Aber er hatte sich mit einem flammenden Protest gegen das Verbot von SA und SS in der Niedersächsischen Tageszeitung hervorgetan..

Am 1. November 1933 wurde er, inzwischen schon Landgerichtsdirektor, zum Generalstaatsanwalt am Kammergericht in Berlin ernannt. Drei Jahre später stellte er in der Zeitschrift Deutsches Recht befriedigt fest, daß "die deutsche Staatsanwaltschaft ... zu einem Werkzeug in der Hand des Führers geworden ist, das ihm - bis in seine letzten Gliederungen hinein .. . in treuem, unbedingtem Gehorsam zur Verfügung steht". Wiederum zwei Jahre später, im Frühsommer 1937, nahm Friedrich Jung an einer Geheimkonferenz im Reichsjustizministerium teil, bei der beschlossen wurde, daß politische Häftlinge mit Stockschlägen traktiert werden durften, aber nur bei "verschärften Vernehmungen" und nur, wenn die Geheime Staatspolizei es anordnete; überdies seien allein "Stockhiebe auf das Gesäß bis zu 25 Stück zulässig ... Es soll ein Einheitsstock bestimmt werden, um jede Willkür auszuschalten."

Nach dem Attentat des Grafen Stauffenberg auf Hitler vom 20. Juli 1944teilte Jung, mittlerweile Oberlandesgerichtspräsident in Breslau, in einem Lagebericht mit: "Mit großer Zuversicht werden daher auch hier sowohl das schnelle Eingreifen gegen die Verräter wie auch alle Maßnahmen, die zu einem verstärkten Kriegseinsatz in der Heimat führen sollen, begrüßt." Mehr als ein Jahrzehnt nach Kriegsende attestierte die "Stiftung Hilfswerke 20. Juli 1944" dem Oberlandesgerichtspräsidenten z.Wv. (zur Wiederverwendung; die Redaktion) Dr. F. Jung, daß er "am Widerstand gegen das 3. Reich beteiligt war, der zum 20. Juli 44 führte". Im Begleitschreiben zu dem notariell beglaubigten Attest heißt es: "Gerne stelle ich Ihnen die gewünschte Bescheinigung aus. Wenn sie anders lauten soll, so bitte ich um den Text."


So lauten Persilscheine. Auch hochanständige Leute haben sie nach 1945 gelegentlich ausgestellt, wenngleich selten mit solch pauschaler Ermächtigung an den Bittsteller, er dürfe sich auf Wunsch noch weißer waschen. Möglicherweise hätte Friedrich Jung die Bescheinigung nicht erhalten, wenn dem Aussteller bekannt gewesen wäre,' daß Umstände vorlagen, die im Jahre 1965 zur Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung gegen ihn und neunzehn andere hohe Justiz-Funktionäre aus der NS-Zeit wegen des Verdachts der Beihilfe zum Massenmord führten.

Im April 1941 hatte in Berlin im "Haus der Flieger" auf Einladung des Reichsjustizministeriums eine Konferenz stattgefunden, an der das gesamte Führungskorps der Justiz teilnahm, darunter der Reichsgerichtspräsident Bumke, der damalige Staatssekretär und spätere Volksgerichtshofpräsident Roland Freisler sowie alle 34 Generalstaatsanwälte und alle 34 Oberlandesgerichtspräsidenten. Zweck der Veranstaltung: Die Bekanntgabe des geheimen Führerbefehls über die planmäßige Vernichtung "lebensunwerten Lebens" an die Teilnehmer und ihre Vergatterung, im jeweils eigenen Zuständigkeitsbereich dafür Sorge zu tragen, daß Strafanzeigen gegen Beteiligte an der Mordaktion, Eingaben von Todeskandidaten oder ihren Angehörigen und alles, was die reibungslose Durchführung des geplanten Massenmordes in speziellen Anstalten behindern könnte, unterdrückt würden. Die Konferenzteilnehmer hörten sich die Ausführungen des Justiz- Staatssekretärs Schlegelberger, mit denen ihnen die Teilnahme an dem Mordunternehmen durch Stillhalten und administrative Verdunklung nahegelegt wurde, widerspruchslos an. Sie nahmen auch das abschließende Ansinnen Schlegelbergers hin, die "Aktion T 4" - so der Tarnname - vor jedweder Störung durch Richter oder Staatsanwälte abzusichern. In der Zeit zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden in den Vernichtungsanstalten mehr als 70 000 Menschen getötet, und zwar nicht nur Geisteskranke, sondern auch Arbeitsunfähige und sogar schwer Kriegsversehrte (doppelt Beinamputierte, Verwundete mit Kopfschüssen).

Nach dem Krieg fanden Prozesse nur gegen die am Anstaltsmord beteiligten Ärzte statt. Einige wurden vom amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg zum Tode verurteilt, andere später von deutschen Gerichten zu Freiheitsstrafen. Die angeklagten Ärzte beriefen sich zu ihrer Verteidigung immer wieder auf die Juristenkonferenz von 1941: Die Billigung der "Euthanasie"-Aktion durch die obersten Repräsentanten der Justiz habe auch ihre Bedenken beseitigt. Einer der leitenden Organisatoren der "Aktion T 4" im Ärztekittel, Professor Werner Heyde, haue sich dem Haftbefehl, mit dem er wegen Mordesgesucht wurde, fast anderthalb Jahrzehnte lang unter Mithilfe von Richtern, Staatsanwälten und Ministerialbeamten entziehen können - als meistbeschäftigter Gerichtsgutachter in Schleswig-Holstein. Er hatte an der Konferenz im "Haus der Flieger" teilgenommen und für den Mord geworben. Endlich, nach seiner Festnahme im November 1959, begannen auch die Ermittlungen gegen die noch lebenden Juristen unter den Konferenzteilnehmern. Am 22. April 1965 stellte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer den Antrag auf gerichtlicheVoruntersuchung gegen den Ex-Staatssekretär Schlegelberger, elf ehemalige Oberlandesgerichtspräsidenten und fünf ehemalige Generalstaatsanwälte, unter ihnen Friedrich Jung.

Das Verfahren aber schleppte sich hin, einige der Angeschuldigten starben, andere taten mit Hilfe ärztlicher Gutachten ihre Verhandlungsunfähigkeit dar. Im Juni 1968 starb auch der Ankläger, Fritz Bauer, einer der ganz wenigen hohen Juristen aus der Nachkriegszeit, die es mit der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechern in der Robe ernst gemeint hatten. Nach einer Anstandsfrist von knapp zwei Jahren nach dem Tod Bauers beantragte sein Amtsnachfolger, die angeschuldigten Justizfunktionäre "außer Verfolgung zu setzen". Das Landgericht in Limburg an der Lahn, zuständig, weil viele Opfer in der nahegelegenen Anstalt Hadamar ermordet worden waren, stimmte dem Antrag in einem neun Zeilen umfassenden Beschluß zu ("kann den Angeschuldigten eine Beihilfe zum Mordnicht im Sinne eines hinreichenden Tatverdachts nachgewiesen werden").

Die Öffentlichkeit erfuhr so gut wie nichts vom traurigen Ende der Affäre. Die Akten und Beiakten - vierzehn Bände - wanderten in den Keller. Sie wären dort auch verblieben, hätte sich nicht ein Zeitgeschichtler - aber leider auch ein Standesgenosse - wiederum fast anderthalb Jahrzehnte später um Aufklärung bemüht. Der Braunschweiger Oberlandesgerichtsrat Helmut Kramer erzwang sich gegen heftigen Widerstand den Zugang und schrieb die Geschichte "Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstäatsanwälte als Gehilfen der NS-,Euthanasie"' für die Fachzeitschrift Kritische Justiz auf. Dabei unterliefen ihm Fehler: Er meinte, die Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten seien 1941 alle in "Amtsleiteruniform" erschienen, also auch der Generalstaatsanwalt Jung, den er zudem versehentlich in den erst kurz vor Kriegsende erworbenen Rang eines Oberlandesgerichtspräsidenten versetzte. Auch vergaß er zu erwähnen, Jung habe (nach seiner unbewiesenen Behauptung als Beschuldigter im Ermittlungsverfahren) dem in der Juristenkonferenz von 1941 neben ihm sitzenden Kammergerichtspräsidenten Hölscher zugeflüstert: "Jetzt möchte ich den sehen, der vor Scham nicht rot wird."

Jung hatte bei seiner richterlichen Vernehmung auch behauptet, er sei irgendwann später zu Staatssekretär Schlegelberger gegangen und habe ihm gesagt, er könne aus religiösen und rechtlichen Gründen die ihm erteilten Weisungen nicht ausführen. Schlegelberger, der ebenfalls vernommen wurde, konnte sich an Jung nicht erinnern. Er wußte deshalb auch nicht, ob er zu ihm gekommen war. Er räumte aber ein: "Denkbar wäre dies."

Auf diese Details war der Zeitgeschichtler Krämer in seiner Schilderung nicht eingegangen. Das reichte indes dem Sohn des NS-Generalstaatsanwalts, einem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, vom Oberlandesgerichtspräsidenten in Braunschweig die Bestrafung des ihm disziplinar unterstellten Richters zu verlangen:' Der habe bei seiner kritischen Würdigung der Teilnahme des Vaters Jung am "Euthanasie"-Mord bewußt gelogen. Richter Kramer mußte sich notgedrungen mit einer Strafanzeige wegen übler Nachrede wehren.

Aber er verlor. Erst sprach ein Schöffengericht den Botschafter frei: So viele falsche Fußnoten in Kramers Artikel. Die Generalstaatsanwälte undOberlandesgerichtspräsidenten waren zwar aufgefordert, in "Amtsuniform" zu erscheinen. Dies heiße aber nicht, daß auch jeder - und zumal Vater Jung - so erschienen wäre.

Schlegelbergers Erklärung, es sei denkbar, daß Jung protestiert habe, müsse erst einmal widerlegt werden. Mit anderen Worten: Ein Mitbeschuldigter (nicht etwa ein Zeuge) braucht einen anderen Mitbeschuldigten nicht einmal zu entlasten. Es genügt, daß er Entlastendes für möglich hält. Dann muß der Ankläger beweisen, daß es so nicht gewesen sein kann.

Um es kurz zu machen: Die Rabentraulichkeit in der deutschen Justiz hat wieder einmal funktioniert. Kein einziger unter den Begünstigern der Hitlerschen "Euthanasie"-Morde wurde zur Verantwortung gezogen. Dem Sohn eines zu Recht Beschuldigten ist es fünfzig Jahre nach der Tat sogar gelungen, die verlorene Ehre seines Vaters zu retten. Er hat vor dem Landgericht in Bonn das gegen ihn anhängige Strafverfahren per Vergleich mit wechselseitiger "Ehrenerklärung" beendet. Dessen sollten wir eingedenk sein, wenn es demnächst um die Selbstbefreiung der ehemaligen DDR-Justiz von ihrer Verantwortlichkeit für das geht, was ihre Angehörigen nicht nur zwölf, sondern vierzig Jahre lang getrieben haben."


Detlef Belau


5. Mai 2009


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