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Aus dem Lebenslauf + Schwierigkeiten + Die Posener Zeit + Landrat in Wongrowitz und Kroeben - Wahlkampf in Blottwitz + Gegen die Polen + Ernährungslage + Bodenfrage + Der kapitalistische Weg + Posa ein Parteisekretär? + Kulturkampf + Schulwesen + Verkehrsverhältnisse + Die Stunde der Sozialpolitik + Adolph Wagner und die Erneuerung der Nationalökonomie + kkk Die Kaiserliche Sozialbotschaft + Der Erste Hauptsatz der Sozialpolitik + Abgeordneter und Kirche + Arbeitsethos, Disziplin und Ordnung + Caprivi meldet + In Berlin
Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907 Reichsschatzamt, Staatssekretär + War er der Richtige? + Ist er ein Agrarier? + Moloch Militarismus + Gegen Reichsverdrossenheit + Reichstagswahlen 1893 +Geb` Acht, Du schlauer Treiber du (Etat 1884/95) + Mißstimmung + Reichsfinanzreform (1894) + Was wird aus dem Finanzreformgesetz? + Finanzreformgesetz 1895 + Im Überfluss gescheitert + Umsturzgesetz + Johannes von Miquel und Graf von Posadowsky - Diagonal-Karriere + Revirement + Reichsamt des Innern + Ernennung zum Staatssekretär + Die Institution + Nächste Aufgaben + Reformen + Ist er ein Bremser? + Was konnte er entscheiden? + das kleine, tapfere Volk der Buren + Weltpolitik und Handel: (a) Flottenrüstung, Exportinteressen und nationale Verteidigung + (b)Kräftegleichgewicht herstellen, (c) Rettung bringt die maritime Defensionsakte, (d) Mehrheitsmeinung und Untertanenverstand, (e) Manipulation mit der neutralen Bedeutung, (f) Rüstung als Kulturabgabe, (g) Eine Alternative, (h) Der Campion mit der gepanzerten Faust, (i) Unser Platz an der Sonne (Bülow), (j) Kanonenboot-Politik + (k) Der Kuli pocht an die Thore Europas + Weltpolitik + Die schönen Zeiten sind vorbei + Schuld sind die Europäer und Amerikaner (Bebel) + Kohlehandel-Syndikate + .... wie in einem eroberten Land + Die Amerikaner werden ihr Monopol ausdehnen + Der Sozialismus ist ihm nach wie vor völlig verschlossen + Tuberkulose-Bekämpfung + Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren + Zwölftausendmark-Affäre + Posadowsky-Statistik + Als Verwandlungskünstler + Der kluge Hans und der blöde Michel + Caprivi: Wir sind auf Dauer nicht im Stande, das zu bezahlen, was wir brauchen + Der Handelspolitiker: (a) Handelstag 1901, (b) Zolltarifgesetz und Zolltarif 1902, (c) Abschluß der Verhandlungen, (d) Osterfahrt (e) Bauernfasching 1902, (f) Segen für die Landarbeiter, (g) An das arbeitende Volk! + Ich stehe zwischen zwei Welten + Deutsch-amerikanischer Zollkrieg und Zusammenschluss europäischer Staaten + Handelsverträge 1905 + Bekämpfung und Annäherung an die Sozialdemokratie + Wer Recht erringen will, der muss ... + Wie noch kein Staat der Welt? + Christliche Arbeiterbewegung + Ist die Überwindung der Sozialdemokratie möglich? + Der verwirrte Posadowsky + Junker, Centralverband deutscher Industrieller und Klassenpolitik + Gegen Überreglementierung + Das Vaterland + Sozialstrukturelles Denken + Empathie + Arbeiterfreundlich + Arbeitnehmerfreizügigkeit + Unglück, Pflicht und Menschlichkeit + Kernsätze der Sozialpolitik + Widerstand gegen die Sozialpolitik + Staatssekretär für Sozialpolitik + Kellerfest des Hottentottenblocks + Die Einkreisungs-Doktrin + Kolonialpolitik und Weltstellung + Reichstagswahlen 1907 + Bülow-Schlächterei + Der Sturz + Das Wohnungsproblem als soziale Frage
Wer ihn kannte, achtete und bewunderte ihn. "Seine Hauptstärke war", steht im Zeugnis der sozialdemokratischen Volksstimme aus Magdeburg vom 25. Juni 1907, "die fleißige Durchdringung der zahlreichen Einzelheiten seines Ressorts, verbunden mit einer gewissen Nachdenklichkeit, also einer in preußischen-deutschen Regierungskreisen höchst seltenen Eigenschaft."
Vier Tage nach seinem Abschied als Staatssekretär des Innern bescheinigt ihn die Leipziger Volkzeitung: ".... immer empfand man, daß er den Dingen auf den Grund gehen suchte". Die Vossische Zeitung (Berlin) würdigte, dass er "ein erfreuliches Verständnis für die Bedürfnisse der Zeit bewiesen". Dabei, wenn wundert`s?, von [einigen] Sozialdemokraten als Reaktionär angesehen, von den Scharfmachern" "als Gönner der "Genossen" verschrien." Georg Schiele (Naumburg), der später Posadowsky`s Sozialpolitik mit reaktionären Sottisen überschüttet und 1926 den Weg zum Völkischen Staat einschlägt, testiert ihn 1904 im Grenzboten: "Dieser hat zeit seines Lebens mit dem hingebenden Eifer eines glühenden Patrioten und charaktervollen Staatsmanns Gerechtigkeit nach allen Seiten walten lassen." In der Finanzpolitik spinnt er den Faden der indirekten Steuern weiter. Die Reichsfinanzreform von 1895 gelingt nicht. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildet die Sozialpolitik. Er reifte ".... zum anerkannten Minister für Sozialpolitik, der mit großer Sachkenntnis das groß gewordene Reichsamt des Inneren leitete." (Tennstedt 2011, 5) Leider besitzt der Staatssekretär, wirft ihn 1897 August Bebel vor, "..... das lebhafteste Mitgefühl für die Schmerzen der Junker" und "mögen dieselben noch so kühn und anmaßend sein, niemals wird ein Wort des Tadels oder der Klage aus seinem Munde kommen; immer wird er diesen gegenüber die Dinge von der schönsten wohlwollendsten Seite betrachten." Ganz so wahr es nicht, charakterisiert aber einen Grundkonflikt zwischen ihm und den Sozialdemokraten. Mitunter, wenn er es für angebracht hielt, schnitt er die überhöhten Ansprüche der Agrarier zurück. Oftmals wirkte er etwas steif und unnahbar, doch nie unaufmerksam oder unfreundlich. Dem politischen Gegner begegnete Graf von Posadowsky achtungsvoll, bisweilen humorvoll und mit Sinn für Satire. Sachlich, systematisch, dass heißt vom Standpunkt einer reformorientierten liberal-konservativen Politik gewichtet, konkret und ohne persönliche Anfeindungen, parliert er am 13. Dezember 1897 vor dem Reichstag die Rede von August Bebel. So erleben die Reichstagsabgeordneten nicht nur ein hartes Ringen politischer Kontrahenten, sondern eine Sternstunde der Parlamentskultur. Ihre Debatten zur Internationalisierung der Wirtschaft, "amerikanischen Invasion" (1899), deutschen Weltpolitik, Flottenrüstung, Sozialpolitik als Kulturaufgabe, Handels-, Zoll- und Kolonialpolitik reichen bis in die Gegenwart. Heute schenken sie sich nichts. Der Staatssekretär des Reichsamts des Innern schreckt den Arbeiterführer mit der Nachricht, dass die Gewerkschaften in England arbeitersparende Maschinen verbieten wollen.
Darauf entgegnet Bebel, was bereits im Streit um die Miquel`sche Finanzreform zum Tragen kam, dass die steigenden indirekten Steuern für die Arbeiter eine hohe Belastung darstellen. Und er warnte davor, auf die jetzigen Einnahmen, künftige Ausgaben zu setzen. "In einer Beziehung muss ich ihm beipflichten", entgegnet Posadowsky:
Just in diesem Moment prallt die Deutschland-Lokomotive auf den Protest gegen die Getreidezollpolitik. Das kam nicht unerwartet, rügte doch am 11. Dezember 1902 August Bebel im Reichstag, dass an die arbeitende Klasse nicht gedacht worden war. Aber den "Päppelkindern", so nennt der Oppositionsführer die Junker und Agrarier, wurde mit der Zollgesetzgebung (1902) wohlgetan. Die Folge ist ein Schub in der Einkommensverteilung von unten nach oben. Der Chefredakteur der großbürgerlichen "Deutschen Tageszeitung" und Autor von "Der Konservatismus als Weltanschauung" (1893) führt 1906 Klage darüber, dass der Kanzler mit seinen Reden, auf der linken Seite des Parlaments Entrüstungsstürme auslöst, während "sein Stellvertreter [Graf von Posadowsky] nicht selten durch lebhaften Beifall der Sozialdemokratie gelohnt." (VS 13.2.1906) In der wilhelminischen Zeit prominent, beliebt bei den Liberalen und Teilen des Zentrums, oszillierende Ab- und Zuneigung bei den Konservativen. Die SPD ihm gewogen, doch stets in der Angst, dass er den Industriebündlern oder Agrariern verfällt. So baute sich um ihn eine ungewöhnliche Konfliktlage auf. "Posadowsky war ein Fremdkörper in der wilhelminischen Regierungswelt," skizzierte sie 1932 das Berliner Tageblatt, "in die ihn das Schicksal gestellt hatte. Sein Ernst und sein reines Wollen hat stets in allen politischen Lagern, und oft am meisten bei den Gegnern seiner konservativen Anschauungen, Anerkennung gefunden."
Aus dem Lebenslauf zurück Die Naumburger kreuzten seinen täglichen Weg mit Ehrfurcht und freundlichem Respekt. "Zu meiner Zeit saß in der Kurie der schlesische Graf von Posadowsky-Wehner", rekonstruiert 2006 Hans-Gert Kirsche die Begegnung mit ihm, "seinerzeit Böttichers [auch Boetticher] Nachfolger im Reichsamt des Inneren und später Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei. Er sah aus wie der leibhaftige Weihnachtsmann, denn er trug einen riesigen weißen Vollbart vor sich her, und war in der Stadt, wo man ihn häufig auf den Straßen sah, sehr beliebt. Als er [am 23. Oktober] 1932 starb, folgte fast ganz Naumburg seinem Sarge, es war wie ein Staatsbegräbnis."
Dr. jur. Dr. theol. h. c. Dr. med. h.c. Staatsminister und Staatssekretär a. D. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner wurde am 3. Juni 1845 als Sohn des Oberlandesgerichtsrats Graf von Posadowsky und seiner Ehefrau Amalie, Familienname von Plötz, zu Glogau geboren. Hier besucht er von 1864 bsi 1867 Evangelische Gymnasium und verlässt es mit der Reifeprüfung. Anschließend folgt in Berlin, Heidelberg und Breslau das Studiem der Rechte. Dan erfolgt an der Universität Breslau die Promotion zum "Dr. jur.". Von 1867 bis 1869 Auskulator und Referendar am Stadtgericht Breslau. Nach Ablegung des zweiten Staatsexamens, quittiert er den Justizdienst. Die Familie erwirbt im Kreis Gnesen das Gut Welna. Hier sammelt der Jung-Akademiker praktische Erfahrungen und Kenntnisse bei der Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes. 1871 wechselt Posadowsky als Regierungsreferendar und -assessor wieder in den preußischen Staatsdienst nach Posen. Im gleichen Jahr heiratet er Elise von Moeller, die Tochter eines Präsidenten eines Appellationsgerichts. Gemeinsam ziehen sie zwei Söhne und zwei Töchter groß. Ein Sohn verstirbt früh. Ab 1873
folgen die Tätigkeiten als Landrat in Wongritz (Bromberg) und Kröben
(Rawitsch),
später als Direktor der provinzial-ständischen Verwaltung beziehungsweise
Landhauptmann der Provinz Posen.
Schwierigkeiten zurück Eine Suchanfrage im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig unter "Posadowsky-Wehner, Arthur" brachte elf Titel (Angaben) zum Vorschein. Ein bedeutungsschweres und zugleich mageres Angebot für eine historische Persönlichkeit dieses Formats, was, wenn auch ziemlich richtungslos, auf Darstellungs- und Rezeptionsprobleme hindeutet. Die Voraussage der Frankfurter Zeitung von 1932 - "Jedenfalls aber bleibt er in Erinnerung als einer der Aufrechten aus der wilhelminischen Zeit" - erfüllte sich nicht. Selbst in seiner letzten Heimatstadt fällt der Politiker und Dechant des Naumburger Doms nach seinem Tod 1932 schnell in Vergessenheit, was man unschwer an Hand des Bestandes der Sekundärquellen im Stadtarchiv Naumburg (Saale) feststellen kann. Nach 1990 erfolgt die historische Neuvermessung. Zunächst nicht durch die Stadthistoriker, die intensiv vor allem mit der in Naumburg vor 1945 stationierten Wehrmacht, dem Leben des Fotografen, Maler und Regisseur Walter Hege oder mit der städtischen Bautätigkeit und Architekturentwicklung befasst sind. Viel öffentliche Aufmerksamkeit zog die Einweihung des Nietzsche-Denkmals am 15. Oktober 2007 und die Eröffnung des Nietzsche Dokumentationszentrums im Oktober 2010 in der Wenzelsgasse 18 auf sich. Eine Unzahl, nur noch schwer zu erfassender Aufsätze über historische Persönlichkeiten der Stadtgeschichte entstehen. Nur eben keiner über .... Und Posadowsky? Wer war das, bitte? Mittlerweile erschien 2006 von Joachim Bahlcke der Aufsatz: Sozialpolitik als Kulturaufgabe. Zu Leben und Wirken des schlesischen Politikers Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845-1932). Und Simone Herzig veröffentlichte 2012: Die "Ära Posadowsky". Posadowskys Beitrag zur staatlichen Sozialpolitik im deutschen Kaiserreich. Als Staatssekretär und Vizekanzler des Deutschen Reiches galt er den einen als belastet, der besser im Dunkel der Geschichte verbleibt. Anderen war er nicht interessant genug, weil sich seine Tätigkeit als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und des Inneren wesentlich über den Reichstag realisierte. "Von der Volksvertretung war vollends nichts zu erhoffen", legt Johannes Haller in der 1923 erschienenen Schrift "Die Aera Bülow" (146, 148) dar. Sie "ist nie über ein ohnmächtiges und gänzlich unverbindliches und unwirksames räsonieren hinausgekommen und hat alle großen und kleinen Fehler der Regierung teils geduldet, teils mit lebhaftem Beifall unterstützt." Damit fallen die heftigen politischen Feuergefechte zwischen Arthur Graf von Posadowsky-Wehner und August Bebel zur Rolle der Gewerkschaften, den Streiks, zur Zollpolitik (1901/02), Zuchthaus-Vorlage (1898/1901), Flottenpolitik, Sozialgesetzgebung und Koalitionsrecht in die Rubrik unwirksames räsonieren. Von den Debattenbeiträgen aus dem konservativen Lager, etwa zur Europa-Idee, durfte man nach Haller vollends nichts erhoffen. Und die schweren Attacken von Eugen Richter gegen den Militarismus reduzieren sich auf eine Kritik an sogenannten kleinen Fehler der Regierung. Vermutlich resultiert seine Erkenntnisperspektive aus einer krassen Form von Voreingenommenheit gegenüber dem Parlamentarismus, was wiederum gravierende Fehleinschätzungen zum Einfluss der Parteien auf die Politik, ihre Wirkung auf Wilhelm II. und die Öffentlichkeit zur Folge hat. Es pflanzt sich in seiner politischen Haltung zum monarchischen Denken und politischen Geringschätzung der Weimarer Republik fort. Derartige Dogmen ebneten antiliberalen und demokratiefeindlichen Bewegungen den Weg. Diffundieren diese Kautelen in die Geschichtspolitik ein, erschweren sie besonders die historische Aufarbeitung der Rolle der führenden Vertreter des Staates unter Einschluss ihrer persönlichen Eigenschaften, Lernfähigkeit, Gruppenverhalten, Charakter, Temperament, emotionale Gestimmtheit und Konfliktverhalten. Bis 1987 (117) entstand, registriert John C. G. Röhl, keine einzige wissenschaftliche Biographie über Wilhelm II.. Es ist die Zeit der Geschichte des Kaiserreichs ohne Kaiser, des Wilhelmismus ohne Wilhelm (N. Sombart / Röhl) und der deutschen Sozial-, Handels- und Geldpolitik ohne die Persönlichkeit Graf von Posadowsky. Natürlich beeinflussten noch andere Formen der Macht und gesellschaftliche Denkmoden die historische Aufarbeitung ungünstig, zum Beispiel Verbohrtheit, Dogmatismus und Vorurteile, öfter gut verpackt in der Staatsräson. Es mutet paradox an, war aber im Fall Posadowsky so: Die einen störte die konservative Regressivität, während andere die liberale Progressivität abstieß. Im gesamten linken Lager dominiert nach 1918 eine politische Haltung, die liberal-konservative Persönlichkeiten als Reaktionär verfemte. (Siehe Kapitel "Das nationale Erbe") Längst vergessen ist beispielsweise, was Der Gewerkverein Nr. 7 am 16. Februar 1906 aufzeichnete: "Seine Reden lassen erkennen, dass das Reichsamt des Innern und sein Chef sozialpolitisch fortschrittlich denken." Einige erkannten längst, Posa war nicht der reaktionäre Knochen, den man nur bekämpfen muss, und dann wird alles Gut. Außer den Sozialdemokraten, irgnorierten die Gegner tendenziell seinen Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage für die Unterschichten, die Leistungen auf dem Gebiet der Staats- und Rechtstheorie und der Geldpolitik in der Phase der Hyperinflation und Aufwertungsgesetzgebung. Vertreter vom rechten Ende des politischen Spektrums ordneten ihn in die Krise des konservativen Denkens ein und erschwerten damit auf ganz andere Weise die Rezeption seiner politischen Gedanken. Simone Herzig kam 2012 (47) nicht umhin festzustellen, dass Leopold von Wiese (1909), Martin Schmidt (1935) oder Karl Erich Born (1957) Arbeiten zum Leben und Werk von Posadowsky-Wehner vorliegen, denen es an wissenschaftlicher Objektivität mangelt. 1961 erschien in Ost-Berlin (DDR) das Buch "Deutschland von 1897/98 bis 1917". Autor Fritz Klein (1924-2011) suchte auf 408 Seiten eine Antwort auf Fragen, wie: Was war das 1914 für ein Deutschland? Welche politischen Kräfte drängten zum Krieg? Waren die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse die Ursache? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem Ersten Weltkrieg für die deutsche Politik in Europa und der Welt? Ob nun marxistisch, dogmatisch, ökonomistisch oder konkret-historisch, ist in diesem Moment nicht von Interesse, war es doch ein notwendiges Buch, nachdem Intellektuelle und politische Bürger in Ost- und Westdeutschland, vielen Ländern Europas und Kontinenten dürsteten. Das deutsche Kaiserreich exemplifiziert sich hier als repressiv, ausbeuterisch, militaristisch, expansiv und krisenanfällig. Ein wilhelminischer Politiker wie Graf von Posadowsky erscheint da lediglich als Vollzugsorgan und Abziehbild des Systems. Mit Wächtern der kapitalistischen Kassenschränke diskutieren wir", diktiert Rosa Luxemburg am 20. November 1918 den Genossen, "weder in der Nationalversammlung noch über die Nationalversammlung." Im Sog derartiger Vorstellungen konnte kein großes historisches Interesse an seiner Person aufkommen. Das 1961 erschienene Buch der "Griff nach der Weltmacht", Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18, von Fritz Fischer ordnete sich gut in den vorherrschenden ostdeutschen Themenkanon zu I. Weltkrieg ein. Doch im regionalen Raum verlieh er in diesem Moment dem geschichtlichen Massenbewußtseins keinen anderen Drall. Ein offenes Forschungsprogramm kann die modenen Anforderungen an die Aufarbeitung und Darstellung der sozialen, politischen und administrativen Tätigkeit von Graf von Posadawosky am besten erfüllen. Doch muss es gelingen die Historizität der ökonomischen, staats- und rechtspolitischen Prozesse, empirisch so genau wie möglich zu beschreiben. Dazu eignen sich Fragen wie: Welche politischen Verhältnisse prägten ihn unter den konkreten Umständen seiner Zeit? Was sind die personenbezogenen Schlüssel- und Nulllebnisse? Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen musste er in der Sozial-, Handels-, Finanz- und Geldpolitik Entscheidungen treffen? Gab es Alternativen? Wer waren seine politischen Partner und Gegner und wie reagierte er auf sie? War er wirklich ein Arbeiterfreund? Welche Interessen vertrat er? Um eine Antwort zu finden, müssen die Ereignisse und Alternativen unter Einbeziehung und Würdigung der typischen sozialen Gefühlslagen, dem selbstverpflichtenden Wertekanon und zeitbedingtenmoralischen Empfindungen unter der Ägide "Ehre", "Vaterlandsliebe", "Nationalstolz", "Opfer für den Staat", beschrieben und analysiert werden. Die im Text platzierten Bilder, Karikaturen und Witzbilder dienen nicht schlechthin zu ihrer Illustrierung. Vielmehr sollen sie die individuelle Vorstellungs- und Gefühlswelt erweitern und können deshalb öfter in kritischer Spannung zur Niederschrift stehen. Die politische Tätigkeit von Graf von Posadowsky durchziehen tiefe Umbrüche: Erstens (1893-1907 / 1918). Geleitet vom Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik aus der PosenerZeit gestaltet er, nach dem ihn 1893 das Reichsschatzamt überantwortet wurde, maßgeblich die deutsche Sozial-, Finanz- und Handelspolitik. Orientiert am Niveau der Produktivkräfte - Ingenierwissenschften, Technik, Technolgie, externe Naturausnutzung, Arbeitskradft - der gesellschaftlichen Reife sozialer und sozialer Fragen, operiert er als Staatssekretär mit einer furiosen sozioökonomische Interventionstiefe. Verstehen werden ihn nur, wenn wir die systemische Wirkung der gesellschaftlichen Moral einbeziehen. Für die Kategorien des Rechtssystems gilt es analog. Zweitens
(1918-1920). Als Evolutionist
und Reformer entwickelt
er 1918/19 im
Kraftfeld der
Deutschen Revolution Drittens (1920-1925). Nach dem Kapp-Putsch und im Verlauf der Nachkriegskrisen distanziert er sich bis 1925 von der deutschnationalen Politik und Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Viertens (1926-1932). Etwa ab 1924 widmet er seine ganze politische Kraft den Leitlinien und Massnahmen für eine volkswirtschaftlich vernünftige Inflations-, Aufwertungs- und Geldpolitik, die ab 1928 in der Abgeordnetentätigkeit im Preußischen Landtag ihren Höhepunkt erreicht.
Landrat und Landeshauptmann
Die Posener Zeit zurück Von 1873 bis 1893 ist Graf von Posadowsky in verschiedenen Funktionen der 28 992 Quadratkilometer großen Provinz Posen tätig.
erklärt am 17. September 1894 Otto von Bismarck der Posener Huldigungsdeputation beim ihrem Eintreffen auf Schloß Varzin. Tiefe Friktionen durchziehen das Land. National vom Kulturkampf aufgebürstet, ökonomisch unterentwickelt und durch unkontrollierte Einwanderung in den Arbeitsmarkt mit ethnischen Konflikte belastet, atmet die Region ungestillte Gegensätze. Die " ökonomische Entwicklung macht ihren revolutionierenden Einfluß auf die Landbevölkerung geltend (F. Mehring). Das Durchschnittseinkommen einer ländlichen Arbeiterfamilie im Osten Deutschlands, informiert 1893 der Vertreter von Königsberg-Stadt Carl Schultze (1858-1897) den Reichstag, beträgt nach Abzug der Kosten für die Scharwerke jämmerliche 288 Mark im Jahr. Bismarck verschärft 1885/86 die Maßnahmen der Germanisierungspolitik (Sprache, Ansiedlung). Als Prinzip gilt, zwei Millionen Polen können für die übrigen 48 Millionen Deutschen "nicht maßgebend sein" (Bismarck). Praktisch sah das so aus, berichtet am 13. Dezember 1897 der Jurist Sigismund von Dziembowski-Pomian (1858-1918) dem Deutschen Reichstag:
Verbunden mit rücksichtslosen und antisemitischen Ausfällen werden in den preußischen Ostprovinzen zwischen 1885 bis 1887 35 000 Polen ausgewiesen. Obwohl 1849 mehr als 40 000 katholisch Deutsche in Polen und Westpreußen polonisiert wurden, verschwinden ganze deutsche Ortschaften. was sich mit dem Zurückweichen der deutschen Bevölkerung kreuzt. Daraufhin breiten sich übers Land zahlreiche Vereine aus. Angeführt von polnischen Geistlichen oder Edelleuten propagieren sie ihren nationalen Gedanken und bringen so das Polnische im hohen Maße zur Geltung. Allein in Posen gibt es 1885 über einhundertfünfzig dieser bäuerlichen Vereine. Ihr Einfluss bei den Wahlen, ist bereits zu spüren. In Galizien, Russland und Westpreußen wächst ständig das Nationalgefühl der Polen. "Die polnisch-nationale Bewegung wurde durch den Kulturkampf in einer für den preußischen Staatsgedanken gefährlichen Weise gestärkt." (H. von Arnim / v. Below 38) [Tätigkeit als Landrat zurück] Von 1873 bis 1877 ist Arthur Graf von Posadowsky-Wehner als Landrat von W o n g r o w i t z im Regierungsbezirk Bromberg mit 54 787 Einwohnern tätig. Anschliessend regiert er als Landrat von 1877 bis 1885 den Kreis K r o e b e n mit 48 850 Einwohnern (Stand 1905). Der Sitz des Landratsamtes befindet sich in Rawicz (deutsch: Rawitsch) mit 8 316 Einwohnern (Stand 1837).
Auf die Sozialgesetzgebung hat ein Landrat keinen Einfluß. Trotzdem kann er die materiell-ökonomischen Verhältnisse der Landarbeiter und des Gesindes, einschließlich ihrer Familien, in den Kreisen Wongrowitz und Kroeben in Grenzen mitgestalten und erlebt, wie schwer es ist und von wieviel tausend Umständen es abhängt, sichere, soziale, menschliche Verhältnisse und etwas Wohlstand zu erarbeiten. Im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter leben die Bürger in Wongrowitz und Kroeben im Haupt- und Nebenerwerb von der Landwirtschaft. Es darf nichts Außergewöhnliches passieren. Jede Missernte, jeder Ernteeinbruch, jede Havarie könnte für sie wirtschaftliche Not bedeuten. "Der ländliche Arbeiter ist ein Pauper. Der Tagelohn beträgt für den Mann 40 Pf. für die Frau 30 Pf., dazu kommen an Naturalien freie, bestenfalls nothdürftige meistens, unzureichende, häufig elende - Wohnung und freier Torf, zwei Morgen Ackerland, und halber Morgen Gartenland, ein Stückchen Rübenland, einige Fuder Heu, um eine Kuh zu füttern ein bestimmter Prozentsatz vom Ertrag der Getreideernte, die sich für die Gesamtheit der Arbeiter eines Guts auf den zwanzigsten der auch siebzehnten Scheffel belaufen. .... Der Arbeitstag beginnt im Sommer um sechs Uhr Morgens und währt bis Sonnenuntergang, mit einer anderthalbstündigen Mittags- und je einer halbstündigen Frühstücks- und Vesperpause ...." "Bei den Wahlen zum Landtage hat er einfach den Gutsherren zum Wahlmann zu ernennen, bei den Wahlen zum Reichstage den Zettel, den ihn der Hofmeister in die Hand drückt, in die Urne zu werfen." (Stolpmünde 1890) [Wahlkampf in Blottwitz zurück] Aus wirtschaftlicher Not folgen weitere Abhängigkeiten und Demütigungen, wie die Durchführung der Reichstagswahlen am 10. Januar 1874 in Blotnica Strzelecka, deutsch Blottwitz, illustrieren. Wie üblich richten die Verantwortlichen zu diesem Anlass ein Wahllokal ein. Gleich am Eingang befindet sich die Wohnung des herrschaftlichen Wirtschaftsbeamten Dworafek, der offenbar dazu berufen, die eintreffenden Wähler, welche zur Abstimmung in das dazu bestimmte Zimmer gehen wollten, vorher mit einem Schnaps zu traktierten (Berichtssprache). "Der Wahlvorsteher Graf von Posadowsky-Wehner ging während des Wahlaktes hinaus und sagte zu Denen, welche im Hausflur und vor dem Hause standen:
Einer nach "strengeren Beurtheilung hinneigende Mehrheit" erkannten bei der Wahldurchführung in Blottwitz klar eine Beeinflussung der Bürger durch den Wahlvorstand. Es betraf, ist dem Bericht von Pfarrer Carl Gratza (1820-1876) zu entnehmen , "sowohl die Gewährung von Genussmitteln unmittelbar vor der Wahl und natürlich die Drohung mit Nachteilen unter Missbrauch dienstlicher Obliegenheiten nach der Wahl. Herzog von Ujest gewann das Reichstagsmandat, musste es aber nach Prüfung durch die Wahlprüfungskommission des Reichstages 1875 niederlegen, nachdem diese den Vorgang für ungültig erklärt hatte. Am 24. September 1875 wurde die Wahl wiederholt. Herzog von Ujest verlor gegen Carl Gratza (1820-1876) von der Deutschen Zentrumspartei. [Gegen die Polen zurück] Die polnische Gefahr ist noch größer als die russische, erklärt Otto von Bismarck 1894 auf Schloß Varzin und stachelt damit den deutschen Chauvinismus zum Kampf wider die Polen, zur Kollision mit dem Adel und der polnischen Geistlichkeit an. "Es scheint," kommentiert am 27. September 1894 das Wiener Volksblatt, "der alte Kanzler kann ohne "Reichsfeinde" nicht leben, hat er keine, so malt er sich welche." "Wir kämpfen nicht mit der polnischen Bevölkerung im Allgemeinen", besänftig der Altkanzler die "teutschen Männer" der Huldigungsdeputation, "sondern nur mit dem polnischen Adel und seiner Gesellschaft." Die Realitäten waren andere. Im Kampf gegen "den unheilvollen Einfluß" der Polen leiteten die Deutschen 1885 in Ostpreußen folgende Ideen: Erstens. Stärkung der wirtschaftlichen Lage Ostpreußen um jeden Preis. Der Deutsche, welcher ein besseres Leben gewöhnt ist als der Pole, bedarf der Hebung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse. Zweitens. Die Beamten müssen streng gegen jede Polonisierungstendenzen vorgehen. "Der Pole als Sklave will streng und energisch behandelt sein." Drittens. Die Entstehung der polnischen Beamten erfolgt in den deutschen Gebieten unter Heranziehung deutscher Beamten. Eine Säuberung der Lehrerkollegien ist emphelenswert. Viertens. "Beseitigung des Kulturkampfes ohne Rücksicht auf den päpstlichen Stuhl." Fünftens. Strenges Festhalten an der 1873 erlassenen Verordnung über die Handhabung der deutschen Sprache in den polnischen Gebieten. Sechstens. Errichtung eines großen deutschnationalen Bundes zum Schutze des bedrohten Deutschtums in den wichtigen deutschen Ostmarken. "Jedenfalls würden diese Mittel hinreichen, das weitere Umsichgreifen des polnischen Elementes in Posen und Westpreußen zu verhindern." (Die polnische Bewegung in Deutschland 1885) [Ernährungslage zurück] Wie unter einem Brennglas fokussieren sich in der Ernährungslage die Lebensbedingungen der Land- und Industriearbeiter der jeweiligen Region. Noch immer war sie im Posener Land gravierend schlechter als in den fruchtbaren Gegenden von Ost- und Westpreußen oder Pommern. Meist bestand die Kost der Landarbeiterfamilien aus Milch und Mehlsuppe, Erbsen und Sauerkraut, oft mit Kartoffeln. Fleisch und Brot gelangt weniger auf den Tisch als anderswo. Statt der acht bis zehn wöchentlichen Fleischmahlzeiten der Landarbeiter, erhält das Gesinde günstigenfalls vier. Bedingt durch hohe Branntweinpreise, nahm die Trunksucht ab. Uneheliche Geburten, Feld- und Forstdiebstahl sind eine alltägliche Erscheinung. Das Inzestverhältnis entschärft sich durch den starken Zustrom ausländischer Landarbeiter. [Bodenfrage zurück] Fast verschwunden war, erhob 1892 der von Max Weber gezeichnete "Schlussbericht über die Provinz Posen", die Bereitschaft zum Grunderwerb, weil die Besitzlosen zwar den Kaufpreis für den Boden, nicht aber das Baukapital abtragen konnten. Oftmals bestand die Neigung zum Sparen, was jedoch später regelmäßig zur Überschuldung führte und sich deshalb nicht fortsetzte. Offenbar kommen die Bestrebungen zur Parzellierung, also der Seßhaftmachung, nur schwer voran und werden durch die widersprüchliche soziale Lage ausgebremst. Die Bodenpreise stiegen weiter. Das Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 ermöglichte, den aufgekauften polnischen Großgrundbesitz an deutsche Siedler zu vergeben. Als Folge des Kampfes zwischen der Ansiedlungskommission der preußischen Regierung und dem polnischen Grundbesitz erhöhten sich die Bodenpreise zwischen 1896 und 1904 von 560 Mark pro Hektar auf 1025 Mark pro Hektar Land. (Vgl. Fesser 1991, 77)
"Entscheidend ist ferner bei den Polen die Untüchtigkeit der Frauen. So tüchtig das polnische Mädchen als Arbeiterin ist, so untüchtig ist sie als Frau." Zugeteilt auf dem leichten Boden im Kreis Mogilno, ging es den Parzellenbesitzern nicht gut. Auch im Kreis Gnesen haben sie nur auf besseren Boden bestand. Die Idee "große Inseln des Deutschtums im polnischen Meer" (Bülow) zu schaffen, wurde nicht aufgegeben. Kaum hatte Posadowsky-Wehner im Juni 1907 den Regierungsapparat verlassen, da brachte Bülow am 26. November desselben Jahres im preußischen Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes ein, das es erlaubte, polnischen Grundbesitz zu enteignen. Am 26. Juli 1912 setzt der Preußische Landtag die umstrittene Ansiedlungspolitik fort und beschließt das Gesetz über Stärkung des Deutschtums in einigen Landesteilen. Gemäß dem Ansiedlungsgesetz von 1886 erhielt die Ansiedlungskommission durch das Besitzbefestigungsgesetz für die Ostprovinzen 100 Millionen Mark zum Erwerb von Grundbesitz in Westpreußen und Posen. [Der kapitalistische Weg zurück] Die Zeit nach 1873, als deutsche Wanderarbeiter Lebensansprüche in die slawische Bevölkerung trugen, wurde verdrängt durch die Invasion billiger, besonders russischer Arbeitskräfte. Die Landwirte im Osten sind g e z w u n g e n, hält Posadowsky am 13. Dezember 1896 im Reichstag August Bebel vor, grosse Massen von ausländischen Schnittern und Erntearbeitern heranzuziehen, um die Ernte von den Gütern zu bergen. Das ruinierte den Bestand freier Tagelöhner, senkte das Lohnniveau und verdrängte die einheimischen Arbeitskräfte. Der Landwirt, was nicht seine Schuld, ist ein kapitalistischer Unternehmer geworden, arrangiert sich 1897 Georg Schiele in Zur Polenfrage (9) mit den Verhältnissen. "Er hat sich nicht um sozialpolitische Folgen zu kümmern," erkennt er ihm zu, "sondern er soll vor allem seinen Geldverpflichtungen nachkommen." Karl Kautsky (1854-1938) untersucht 1899 in der Schrift "Die Agrarfrage" die Vor- und Nachteile unterschiedlichen Formen und Größen landwirtschaftlicher Betriebe. Nachdem er die ökonomische Überlegenheit des Großbetriebes, der den kapitalistischen Weg der Landwirtschaft zur Geltung bringt, nachgewiesen, erläutert er die Vorteile des Kleinbetriebes: den größeren Fleiß und die Sorgfalt des Arbeiters sowie Bedürfnislosigkeit des kleinen Landwirts. Von den laut Betriebszählung 1895 existierenden 527.600 landwirtschaftlichen Betrieben sind noch immer 76 Prozent in den Händen der Kleinbauern. [Ein Parteisekretär? zurück] "Die Landräte in Preußen wirken wie Parteisekretäre für ihre politische Richtung, auf die mittleren und unteren Beamten wird mit terroristischen Mitteln ein gesetzwidriger Zwang zur Unterstützung der Konservativen ausgeübt." Diese Aussage von Ludwig Frank 1911 in "Die bürgerlichen Parteien des deutschen Reichstags" (21) kann, was wir bisher über Posadowsky wissen, nicht auf seine Tätigkeit in Posen übertragen werden. Vielmehr ist zu erkennen, dass er bei der Bewältigung der wahrlich schwierigen innenpolitischen Lage in Verantwortung für das Ganze mit Einfühlungsvermögen, Augenmass, menschlichem Geschick und Verständnis handelt. Sein soziales, politisches und fachliches Urteil folgt weder Oberflächlichkeiten noch der Verschlagwortung der Politik. "Ich habe 25 Jahre unter Polen gelebt und kenne sie ganz genau", lässt er 1930 den Preußischen Landtag an seinen Erfahrungen teilnehmen. "Ich kenne ihre guten Eigenschaften, aber auch ihre Schattenseiten ...."
sagte er von sich. Die Nachrichten aus den nachgewiesenen Quellen über seine Tätigkeit als Landrat und Landeshauptmann, bieten keinen Grund daran zu zweifeln.
[Kulturkampf zurück] In beiden Landkreisen, die Posadowsky von 1873 bis 1885 in der Provinz Posen regierte, überwog die polnisch-sprachige Bevölkerung. Von den 54 787 Einwohnern im Landkreis Wongrowitz waren 78 Prozent Polen, 20 Prozent Deutsche und 2 Prozent Juden. Von den 48 850 Einwohnern (1905) im Landkreis Kröben waren 26 781 Bürger polnischsprachig. Das dem Deutschtum der Totalverlust drohte, war bereits damals sichtbar. Es war in der Minderheit und bot keine wirkliche Stütze. "Dicht bei Posen liegen Dörfer", erinnert er sich 1920, "deren Frauen bei festlichen Gelegenheiten zwar noch die alte Bamberger Tracht tragen, aber ihr Deutschtum in Sprache und Sitte vollkommen verloren haben." "Graf Posadowsky suchte die Kulturkampfgesetze in sachlicher, das religiöse Gefühl der katholischen Bevölkerung möglichst schonender Weise durchzuführen; gleichzeitig bemühte er sich, ohne Ansehen der Nationalität, die wirtschaftlichen Interessen der Kreisbevölkerung zu fördern, und fand hierfür dankbar Anerkennung. Besonders erhob er seine Stimme gegen kleinliche bureaukratische Maßregeln der Regierungsbehörden, welche die polnische Bevölkerung verbitterten, ohne irgendwelchen Erfolg für die Befestigung der deutschen Herrschaft zu erreichen, so zum Beispiel gegen das rücksichtslose Umtaufen geschichtlicher oder für einzelne Familien bedeutsamen alter Ortsnamen von Gutsbezirken, eine Maßregel, die umso wirkungsloser war, als die mit dem Gutsbezirk in räumlichen Zusammenhang liegenden Gemeinden ohne ihre Zustimmung einen anderen Namen nicht erhalten konnten und so derselbe Ort häufig zwei Namen führte." (H. von Arnim / v. Below 388)
[Schulwesen zurück] Im Kulturkampf um die preußische Kirchen- und Schulpolitik entstanden zwischen Bürger und Staat immer wieder Spannungen, die oft in alltägliche Dinge hineinspielten und sie in unterschiedlicher Stärke überlagerten. Besondere Aufmerksamkeit widmete Posadowsky "der Entwicklung des ländlichen Schulwesens, welches arg daniederlag." "Die Kinder der zerstreut wohnenden evangelischen Bevölkerung waren durch den Besuch polnisch-katholischer Schulen der Gefahr der Polonisierung in hohem Grade ausgesetzt. Die Regierung hielt mit Recht darauf, daß die Kinder der polnischen Einsassen in der Schule die deutsche Sprache erlernten; da aber die Schulen meist überfüllt waren und ein Lehrer häufig 80 Kinder, ja über 100 Kinder zu unterrichten hatte, so wurde der deutsche Unterricht nur zu einer äußeren Abrichtung, bei dem es zu einem Verständnis des Deutschen und zur Fähigkeit deutschen Gedankenausdrucks nicht kommen konnte. .... Durch die dargestellten Verhältnisse und die unkluge Art der Durchführung des deutschen Schulunterrichts, auch im Religionsunterricht, führte wohlbegründete Förderung der Regierung zu einer ablehnenden und verbitterten Haltung der polnischen Bevölkerung. Trotz dieser Schwierigkeiten begründete Posadowsky eine große Anzahl neuer Schulzirkel." (H. von Arnim / v. Below 388/389) [Verkehrsverhältnisse
zurück]
"Um die Verkehrsverhältnisse zu fördern, arbeitet Posadowsky
im Jahre 1879 anderweite, den Zeitverhältnissen Rechnung tragende,
den Kunststraßenbau erleichternde allgemeine Bestimmungen aus, welche
demnächst im Wesentlichen von dem Provinziallandtag angenommen wurden
und seitdem die Grundlage für eine kräftige Entwicklung des
Kunststraßenbaus in der Provinz bildeten. Ebenso war es ein schwerer
Mangel, daß die Stadt und der Regierungsbezirk Posen nicht durch
eine kürzeste Eisenbahnlinie mit der überwiegend deutschen Stadt
Bromberg und dem östlichen Teil dieses Regierungsbezirkes verbunden
waren. Graf Posadowsky trat deshalb als Abgeordneter für eine Entwicklung
des Eisenbahnnetzes in der Provinz und namentlich für eine unmittelbare
Verbindung zwischen den beiden Regierungshauptstädtchen Posen und
Bromberg in, eine Forderung die demnächst durch den Bau entsprechender
Eisenbahnlinien erfüllt wurde." (H.
von Arnim / v. Below)
Es schlägt die Stunde der Sozialpolitik zurück Befeuert von der um 1860 in Deutschland verspätet einsetzenden und schnell fortschreitenden industriellen Revolution, entsteht eine neue Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft. Verbunden damit ist ein in sich historischen Dimensionen vollziehender Wertewandelin der verschiedenen sozialen Klassen und Schichten, was besonders gut sichtbar im Streit um die soziale Frage artikuliert. In ungezählten politischen Aufsätzen und Berichten, verfasst von Politikern, Journalisten, Arbeitern und Akademikern, löste sie sich öfters in Geschwätz auf. Karl Marx griff dies am 1. Februar 1849 mit einer sarkastischen Replik in der Neuen Rheinischen Zeitung auf. Es kann keine Rede davon sein, stellte er fest, daß "d i e soziale Frage" eine "unendlich wichtige" ist. Vielmehr besitzt "jede Klasse ihre e i g e n e soziale Frage". Mit "dieser sozialen Frage einer bestimmten Klasse" ist dann "auch zugleich eine bestimmte politische Frage für diese Klasse gegeben." Posadowsky sucht den Ausgleich, während Marx nach den Ursachen der Ungleichheit fragt. Trotz des erkennbaren Unterschieds zwischen konservativer und sozialistischer Denkweise, treffen beide zur sozialen Frage als Klassenfrage ihr Arrangement. Je tiefer und nachhaltiger die soziale Frage in das politische Bewußtsein dringt, umso mehr musste der Arbeitslohn im weit höherem Maße als in vorangegangen Epochen der Gleichheit und Gerechtigkeit Rechnung tragen. Allerdings ermöglicht dies nichtg zwangsläufig die Wende zu einer progressiven Sozialpolitik. Erst muss sich in den Klassen, Schichten und Gruppen der Gesellschaft ein soziales Bewusstsein von ihrer materiell-ökonomischen Lage bilden, aus der sich dann Ideen zur Praxis der modernen Sozialpolitik herauskristallisieren. Eine soziale und bedürfnisorientierte Existenzweise der produktiven Klassen erforderte einen allgemein anerkannten Begriff der Sittlichkeit. Er kommt darauf an, das er Eingang in die Sozial- und Gesundheitsgesetzgebung des Staates finden. Am 4. Juli 1868 schlägt mit dem Gesetz des Norddeutschen Bundes über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und der Einführung von Fabrikinspektionen, den Änderungen der Gewerbeordnung betreffs der Innungen, dem Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 die Stunde der Sozialpolitik.
Adolph
Wagner und die Erneuerung der Nationalökonmie. Adam Smith kann den Sozialpolitikern mit dem Laissez-faire-Prinzip nicht weiterhelfen, wohl aber der seinerzeit als Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und Mitglied des Vereins für Socialpolitik bekannte Adolph Wagner (1835-1917). Berühmt wird seine Rede über die Ideen zur Reform der Nationalökonomie vom 12. Oktober 1871 in der Garnisonkirche zu Berlin.
Wie er die soziale Frage definiert und die Sozialgesetzgebung organisiert wissen will, ähnelt stark der sozial-politischen Denk- und Arbeitsweise, die zwanzig Jahre später Graf von Posadowsky als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und Inneren praktiziert. Adolph Wagner plant den Umbau der Nationalökonomie. "Meine Auffassung geht, kurz gesagt, darauf hinaus," erklärt er in Die soziale Frage (1871, 191), "daß die Nationalökonomie wieder mehr den Charakter und die Bedeutung einer ethischen Wissenschaft erhalten müsse ." Dies mündet nicht in die Moralisierung der Methoden und Aussagen und damit Aufhebung von Standards der wissenschenschaftlichen Arbeitsweise ein. Vielmehr erhält die Nationalökonomie eine neue soziale Funktion und sozialpolitische Verantwortung in der Gesellschaft zugewiesen. Allen gefällt das nicht. Lujo Brentano (1844-1931) kann sozialpolitischen Überlegungen mit ethischem Pathos nicht viel abgewinnen und liebte es nicht, als Vertreter der ethischen Richtung der Nationalökonomie ausgestellt zu werden. Er möchte, wie Otto Tiefelstorf (vgl. 63ff.) darlegt, sozialpolitische Ziele in Verbindung mit Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit betrachten und formulieren. Dabei ist besonders der Produktivitätsaspekt zu beachten. Dieser Ergänzung würde sich Graf von Posadowsky ohne weiteres anschließen und darauf achten, dass ihre ökonomische Funktion nicht überstrapaziert wird. Bei Adolph Wagner steht der Kampf gegen den "sittlichen Indifferentismus" (192) im Vordergrund. Das bedeutet, "in der sozialen Frage gerade an die höheren, wohlhabenderen, gebildeteren Klassen der Gesellschaft" (1871, 191), entsprechende moralische Anforderungen zu stellen. Wagner appelliert an die "sittliche Pflicht der höheren Klassen, Staatsformen den Weg zu bahnen" (1871, 194). Nicht durch Klassenkampf, nicht nach Art der Interessenharmonie, sondern durch Reformen mit dem Ziel, die materiellen und wirtschaftlichen Lebensbedigungen anzuheben, zu verbessern (1871, 202). Es handelt "sich doch immer darum, den unteren Klassen mögliche Erleichterungen zu beschaffen, die ihnen wahrlich nicht vorenthalten werden dürfen." (1871, 194) Ein Impetus, den wir in der staatlichen Organisation der Sozialpolitik bei Posadowsky ebenso finden. In Sprache, Intention und Praxis entspricht dies den übergeifenden gesellschaftspolitischen Zielen der Sozialpolitik die Posadowsky in seiner Amtszeit als Staatssekretär vertritt. Wesentliche Unterschiede bestehen zwischen Posadowsky und Adolph Wagner zum Parlamentarismus und speziellen Aspekten der Flottenrüstung. Der Nationalökonom Adolph Wagner gilt in der aufmüpfigen Sozialdemokratie als Kathedersozialist. Wie Gustav Schmoller oder Lujo Brentano, erkennt sie in ihm einen erbitterten Feind des Marxismus und Vertreter des bürgerlichen Reformismus. Dabei übersehen oder ignorieren seine Gegner öfter mal, dass er dazu aufruft, Karl Marx und Ferdinand Lassalle nicht zu übergehen, da sie meisterhaft verstanden, mindestens gewisse Tendenzen von Übelständen im heutigen Wirtschaftssystem nachzuweisen. Adolph Wagner pocht am 12. Oktober 1871 (192, 195) darauf:
Darüber hinwegzugehen, wäre unklug. Diese Art und Weise des Umgangs mit dem ideologischen Gegner ähnelt stark der von Graf Posadowsky: nicht ausweichen, sachlich und gut belesen darauf eingehen, aber die Probleme nicht verdrängen. Wahr ist freilich, dass die Kathedersozialisten beispielsweise in der Frage Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder sozialen Revolution konträre Auffassungen gegenüber der Sozialdemokratie vertraten. Dennoch übernahmen sie in der wilhelminischen Epoche als Aufklärer und Mediatoren zum Komplex der Sozial- und Reformpolitik in der öffentlichen Meinungsbildung eine wichtige Rolle. Sie treten "gegen eine Einschränkung des Koalitionsrechts und für die rechtliche Stärkung der Gewerkschaften, für den Ausbau korporativer Schlichtungs- und Einigungsverfahren und für den Abschluß kollektiver Arbeitsverträge" ein. (Quellensammlung, 2011, Einleitung XVIII bis XIX)
Die Kaiserliche Sozialbotschaft zurück
Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Anerkennung des Anspruchs der Arbeiter, Arbeiterinnen und arbeitenden Kindern auf Fürsorge durch den Staat stellt die Kaiserliche (Sozial-) Botschaft vom 17. November 1881 dar. Mit der Konstituierung der staatlichen Sozialpolitik, betont am 18. November 1890 rückblickend die Parteizeitung der katholischen Zentrumspartei "Germania", istg der Kampf zwischen Manchestertum und positiver Sozialpolitik in Regierungskreisen beendet. Dies unter "Sozialimperialismus" zu subsumieren, ist mehr verwirrend als erhellend. Wie anders soll der die Gesundheit des Produzenten, Bürgers und Menschen erhalten und gefördert werden? Wahrscheinlich mutet es vielen Deutschen paradox an, zu sagen, Wilhelm I. (1797-1888) Sozialbotschaft von 1881 intiierte einen notwendigen, durch den Staat formierten und kontrollierten Vergesellschaftungsprozeß von Arbeit und Gesundheit. Es ist speziell die Frage des "Sozialimperialismus", der sie zögern lässt, oder ihnen Grund genug eine solche Vorstellung ganz abzulehnen.
Der Erste Hauptsatz der Sozialpolitik zurück "Arbeit war der erste Preis oder ursprünglich das Kaufgeld, womit alles andere bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber," erklärt Adam Smith 1776 in Der Wohlstand der Nationen, "sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben." Diese Einsicht zum Wertbildungsprozess durch Arbeit korreliert mit Posadowsky`s Überzeugung, dass die Sozialgesetzgebung sich auf den Erhalt und die Pflege der industriellen und landwirtschaftlichen Arbeit, ihren Opfern, Anstrengungen, Mühen und Artefakten konzentrieren muss. Er stimmt nicht das Lied des Ökonomismus an, es ist lediglich die Einsicht, dass Humanität und Fortschritt auf der gegenwärtigen menschlichen Zivilisationsstufe auf Arbeit und Schöpfertum gründen. In etwas schwieriger Diktion, aber mit klarer Aussage erklärt Posadowsky den wichtigen historischen Schritt: "Wenn man aber unter Kultur versteht, dass alle Volkskreise sich eines Lebens erfreuen, welches den notwendigen Mindestanforderungen des menschlichen Daseins entspricht, so genügte der äußere Glanz gewisser Zeitabschnitte der Vergangenheit dem Sittlichen und wirtschaftlichen Begriff der Kultur keineswegs." (V&R 127) Er erkannte, dass das Lebensniveau der Landarbeiter und des Gesindes, einschließlich ihrer Familien, mehr vom Kulturstand als direkt von der Fruchtbarkeit des Bodens abhing. Daraus schöpfte er den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik:
Der Erste Hauptsatz der Sozialpolitik reiht sich in den holzschittartig dargestellten Prozeß der Entstehung der positiven Sozialpolitik ein. Dereinst wird Posadowsky, von den Erfahrungen der Posener Zeit geformt, in Berlin die Sozialpolitik als Kulturaufgabe proklamieren. Wenn es sich anbietet, spricht er vor dem Plenum des Reichstages über die "schlechten Verhältnisse des Ostens", was sich am 28. November 1893 aus Anlass der Beratungdes Etat- und Anleihegesetzes so anhört:
Arbeitsethos, Disziplin und Ordnung zurück Das Ganze über das persönliche Interesse heben. Bescheidenheit im täglichen Leben üben. Vorangehen! Nicht aber ins Rampenlicht drängen. Dabei zusammen mit den Bürgern und Mitarbeitern anschauliche und greifbare Vorstellungen von der Zukunft entwickeln. Vor allem: Wie kann man besser werden? Geschickt lernte er als Landrat, sich in konfliktreichen Räumen zu bewegen. Dabei konnte er seine Kenntnisse in der administrativen Leitung und Organisation von Verwaltungsprozessen vervollkommnen. "Er arbeitete rastlos und lebte asketisch", beschreibt 1932 Marie von Bunsen seinen Arbeitsethos. Disziplin und Ordnung, darauf spielt im November 1932 das Posener Tageblatt an, führen bei ihm ein strenges Regime. Seiner Beliebtheit war das nicht immer zuträglich. "Selbst eine Arbeitskraft ersten Ranges, galt er als außerordentlich scharf hinsichtlich seiner Anforderungen an die ihm unterstehende Beamtenschaft. Wer von seinen Leuten nicht am Morgen pünktlich mit dem Glockenschlage an seinem Pulte saß, hatte nichts zu lachen, und wie ein Flugfeuer verbreitete sich bald nach seinem Dienstantritte in Posen von Mund zu Mund die Kunde, dass einer der Räte der Landeshauptmannschaft, der eines Morgens etwa verspätet zum Dienst gekommen war, in seinem Dienstzimmer auf dem Tische die Visitenkarte des neuen Chefs vorgefunden hat." "Nachdem in den übrigen Provinzen eine neu zeitgemäße Provinzialordnung eingeführt war, hegte die deutsche und polnische Bevölkerung den dringenden Wunsch, dass auch die Provinz Posen die provinzielle Selbstverwaltung durchgeführt würde." Bisher besorgten hier die Mitglieder des Oberpräsidiums und der Regierung nebenamtlich die Geschäfte, ohne dass die einzelnen Verwaltungsgebiete untereinander organisch verbunden waren, wodurch die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Provinz schweren Schaden erlitt. Endlich gelang es im Jahre 1885, nach den entschiedenen Drängen der Provinzstände, dass für die einzelnen Verwaltungszweige der provinziellen Selbstverwaltung wenigstens ein und dieselbe Persönlichkeit im Hauptberufe gewählt wurde. Die Wahl des provisorischen Leiters der Verwaltung Posens fiel auf Graf Posadowsky. (H. von Arnim / v. Below 390) 1890 erhielt er den Titel "Landeshauptmann" verliehen. "Im Jahre 1889 verfasste er eine Darstellung der bestehenden Organisation des Posener Provinzialverbandes, in welcher die vorhandenen schweren Mängel derselben klar dargelegt und die fachlichen und politischen Bedenken gegen Einführung einer zeitgemäßen Provinzialverordnung widerlegt wurden ...." (ebenda 390).
Abgeordneter und Kirche zurück Von 1882 bis 1885 vertritt Posadowsky für die Freikonservative Partei den Wahlkreis Lissa-Rawitsch-Fraustadt im Preußischen Abgeordnetenhaus. Wiederholt verteidigte er die berechtigten Ansprüche der evangelischen Kirche. "Wegen der Verschärfung des kirchlich-politischen Kampfes, welcher von der Mehrheit der Freikonservativen Partei begünstigt wurde, geriet in einen scharfen Gegensatz derselben. Nach Ablauf der Wahlfrist nahm er ein neues Mandat nicht an." (Ebenda 389/400) 1884 wurde er in die fünfte Provinzialsynode Posen und zum Mitglied der Generalsynode der evangelischen Landeskirche gewählt. "Er trat in die beiden kirchlichen Körperschaften einer besonderen Partei nicht bei, verteidigte aber den freieren Standpunkt, welcher mehr Wert legt auf die christliche Sittenlehre als auf Bekenntnis- und Glaubensformeln." (Ebenda 390) 1890 wurde Graf Posadowsky durch königliche Berufung zum Mitglied der sechsten ordentlichen Provinzialsynode, "in welcher er für die Förderung der Werke der Inneren Mission und für die Ausgleichung der sozialen Gegensätze auf der Grundlage der christlichen Sittenlehre lebhaft eintrat; von der genannten Synode wurde er wiederum als Mitglied der Generalsynode der evangelischen Landeskirche berufen." (Ebenda 390/391) Abgeordneter konnte er schlecht bleiben, da ihn die Arbeiten zur Reorganisation der Verwaltung voll in Anspruch nehmen. Von 1885 bis 1893 übernimmt er die Aufgabe des
der Provinz Posen. "Der neue Landeshauptmann", erinnert sich die Posener Zeitung 1932, "hatte keine Zeit zum Besuch von Gesellschaften, und wenn er selbst wohl oder übel doch einmal einen Empfang geben musste, hörte man hinterher Gäste von sehr großer Schlichtheit der Bewirtung raunen." Damit der öffentliche Beifall bei seinem Abschied nicht zu grandios ausfällt, rührt die Posener Zeitung (JV 4.10.1893) nochmal seine Spar-Künste auf. "Die Beispiele beziehen sich durchweg auf das Gebiet der Schule, auf dem in einer Reihe von Fällen Gehaltherabsetzungen für die Lehrer vorgenommen wurden, so für die Lehrer an den Provinzial-Taubstummenanstalten, sowohl bezüglich der Gehaltssätze als auch des Wohnungsgeldzuschusses; selbst den älteren Taubstummenlehrer seien die von 5 zu 5 Jahren ihnen zustehenden Gehaltserhöhungen von 300 Mark um 100 bis 200 Mark gekürzt, teils der Bezug um einige Jahre hinausgeschoben worden."
Moloch Militarismus zurück
Der Staat greift zunehmen tief in den Alltag derjenigen ein, die einer antimilitaristischen Einstellung verdächtig sind. Seit Jahren wird auf Grundlage von Vereinbarungen zwischen der Militärverwaltung und den Behörden des Reiches und der Einzelstaaten "ein systematisches Spitzel- und Spioniersystem im größten Maßstabe" geschaffen, um zu ermitteln, wer von den Wehrpflichtigen der sozialdemokratischen Gesinnung verdächtig ist. Speziell die sozialdemokratischen Arbeiter, berichtet August Bebel am 9. März 1893 im Reichstag, dürfen nicht in Staats- und Militärbetrieben arbeiten. Bei einem Teil der Bevölkerung und dem parlamentarischen Widerstand wächst die Abneigung gegen die steigenden Militärausgaben. Zweimal führten Militärvorlagen zur Auflösung des Reichstages. Das erste Mal am 14. Januar 1887, als die Sozialdemokraten mit den Freisinnigen gegen die Heeresverstärkung stimmten. Neuwahlen am 21. Februar 1887. Wilhelm Liebknecht popagiert: "Dem Militarismus keinen Mann und keinen Groschen." Am 11. März 1887 nimmt der neu gewählte Reichstag die Heeresvorlage an. Der zweite Zusammenbruch des Reichstags, verbunden mit einer politischen Krise, kündigt sich mit der Heeresvorlage von 1892 an. Reichskanzler Leo von Caprivi will, was auf harte Ablehnung bei den Nationalkonservativen und weiten Kreisen des Militärs stösst, die Wehrpflicht von zwei auf drei Jahren verringern. Wilhelm II. pocht auf die Annahme einer dreijährigen Dienstzeit, was den Kanzler in eine aussichtslose Lage manövriert, da dies bei allen Parteien auf erheblichen Widerstand stößt. Am 1. Oktober 1893 tritt das Gesetz, betreffend die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres in der Fassung vom 3. August 1893 in Kraft. Es legt für die Zeit vom 1. Oktober 1893 bis 31. März 1899 die Zahl der Gemeinen, Gefreiten und Obergefreiten auf 479 229 Mann als Jahresdurchschnittsstärke fest.
Der Nationalismus ist der Vater des Gesetzes und dem Kinde prophezeit man, kommentiert am 4. Oktober 1893 das Jenaer Volksblatt, eine schöne Zukunft. Es war nicht zuletzt das Resultat einer intensiven ideologischen Arbeit der Nationalen Blätter, die im Volk die Hoffnung schürte und verbreitete, dass die Annahme dieser Militärvorlage, sie auf lange Zeit vor weiteren Belastungen der Landesverteidigung verschont. Natürlich kommt es anders. Schon bald winkt am Horizont die nächste Wehrvorlage. Am 3. Januar 1896, als die Krüger Depesche beschlossen, legt Konteradmiral Tirpitz den Plan für zwei Hochseegeschwader vor, ein Machtinstrument um England zu zwingen, deutsche Weltmachtinteressen stärker zu berücksichtigen. (Mommsen 2005, 89) Weihnachten 1893 schreckt Minna Kautsky (1837-1912) die Bürger mit der Nachricht auf: "In allen Kulturstaaten, namentlich auch in unserem Deutschland bereiten sich gewaltige Umgestaltungen vor." "Niemals war die innere Lage kritischer. Die Frage des Militarismus drängt gebieterisch zur Entscheidung." Zum Neujahrstag 1894 begrüßt der Vorwärts (Berlin) in Europa
Das Ausland beobachtet die Flottenvermehrung skeptisch und zeichnet allmählich ein neues Fremdbild von Deutschland. Das waren noch Zeiten als die Sozialdemokratie 1870/71 mit großen Lettern im "Volksstaat" für einen billigen Frieden ohne Annexionen eintrat und das Ausland sie dafür zur Friedenspartei kürte. So kann man sich heute vorstellen, "wie unpopulär im Allgemeinen der Deutsche Name im Ausland ist". Die einen sehen in ihm "den geldgierigen armen Schlucker" und Emporkömmling, andere den "Repräsentanten des modernen Militarismus". (Bernstein 1896 b, 616) Eugen Richter analysiert am 14. Dezember 1899 (3361) die deutsche Misere im Reichstag: "Macht, Kultur und Wohlstand erscheinen allein abhängig "Das ist das Charakteristische in der jetzigen Politik, dass der Blick fast hypnotisiert ist auf die Marine (...), dass man Macht, Kultur und Wohlstand einzig und allein für abhängig erblickt von der Vermehrung der Flotte, von der Steigerung des Marine-Etats, und dass dagegen alle übrigen Bedürfnisse weit zurücktreten. (Sehr richtig.links)"
Reichstagswahlen 1893 zurück Am 7. Juli 1893 liegt dem Reichstag - bei überfüllten Tribünen - zur Beratung der Gesetzesentwurf über die Erhöhung Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vor. Im Plenum sprechen Reichskanzler Leon von Caprivi, Friedrich Payer (1847-1931) von der Demokratischen Volkspartei und andere. Wilhelm Liebknecht (1826-1900) wirft den Regierenden vor, sie wollen die große Armee, weil sie Angst vor dem Ausland haben, "weil sie sich vor den Russen und Franzosen fürchten". Caprivi gelingt es nicht mit Unterstützung des Reichstages, die Erhöhung der Heeresstärke auf 500 000 Mann zu beschließen. Daraufhin ordnet er zum 6. Mai 1893 die Auflösung des Reichstages und für den 15. Juni 1893 Neuwahlen an.
Lediglich die Sozialdemokraten und antisemitischen Parteien, verraten die Wahlergebnisse, verzeichnen Stimmengewinne. Das Feld der Mittelparteien reißt auf. Die konservative Wählerbasis magert ab. Das Gerede von Königs- und Gottestum wirkte auf viele überholt und abgeschmackt. Nur knapp gewannen die Kartellparteien - Deutschkonservative, Nationalliberale und Freikonservative - die Reichstagswahlen.ccc
Caprivi meldet zurück Im Hochsommer 1893 meldet Reichskanzler Leo von Caprivi dem Kaiser, dass der unentbehrliche Freund Bismarcks, Freiherr von Maltzahn, als Staatssekretär des Reichsschatzamtes, zurücktreten will. Laut "Neueste Mittheilung" (Berlin) vom 15. August 1893 hat er sein Entlassungsgesuch eingericht, weil nach seiner Überzeugung auf die Erhöhung der Brausteuer zur Deckung der Kosten der Militärvorlage nicht verzichtet werden kann. Posadowsky verdankt, glaubt Paul Wittko (1925), seinen überraschenden Aufstieg einem Konflikt zwischen Helmuth Freiherr von Maltzahn (1840-1923) und dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel (1829-1901). Angeblich schlug der Kaiser selbst, nachdem drei Nachfolger im Vorfeld ausgeschieden waren, den Grafen Posadowsky vor, weil er von ihm so viel Gutes gehört hatte. (Wittko 1925) Ein besonderes persönliches Verhältnis, erzählen viele Jahre später die Danziger Neueste Nachrichten (1930), entfaltet sich zwischen ihnen nicht: "Für den Grafen, den der Kaiser unter Außerachtlassung anderer Vorschläge aus eigener Initiative zum Staatssekretär berief, hat er niemals besondere Sympathien gehabt."
In Berlin zurück Arthur Graf von Posadowsky-Wehner trifft 1893 in Berlin ein. In der Reichshauptstadt leben laut Volkszählung 1895 auf 64,4 Quadratkilometer 1.677.304 Menschen (SJB 1900, 1). Die Industriealisierung läuft auf Hochtouren. An der Chausseestraße bei August Borsig verließ 1858 die 1.000 Lokomotive das Werk. Den Berliner Maschinenbau-Actien-Gesellschaft 1897, vormals L. Schwartzkopff, oder Eisenbahn-Luftdruckbremsen, später Knorr-Bremse GmbH, eilte ein guter Ruf voraus. Ab 1890 entsteht auf dem Nonnendamm Siemensstadt. Begonnen hatte es 1847 mit der Telegraphenbauanstalt Siemens & Halske. 1914 beschäftigte sie 75 000 Arbeiter. Max August Jordan in Treptow kaufte sich in die Anilinfabrikation mbH Rummelsburg ein, aus der 1897 AGFA hervorgeht. In Massen zog es qualifizierte und unglernte Arbeiter in die Stadt. Laubenkolonien dämpfen die krasse Wohnungsnot. Ihre Arbeitskraft wird, zum Beispiel in den Druckereien der Verlage von Rudolf Mosse, Berliner Tageblatt, Ullstein, Scherl und S. Fischer, gebraucht. Das Leben der arbeitenden Klassen wird durch eine neuartige Arbeiterfreizeit mit Kino, Schrebergärten, Vergnügungen und Kneipen freundlicher, besser und anregender. Posadowsky bemüht sich, an ihren lebensweltlichen Erfahrungen und sozialen Antizipationen anzuknüpfen. Und was wird, aus seiner Liebe zur Landwirtschaft. Paßt sie in die Industriestadt? Ist er vielleicht ein Freund der Junker? An den neuen Staatssekretär des Reichsschatzamtes stellt man hohe Erwartungen. Wilhelm II. definiert sie am 17. November 1893 in der Thronrede zur zweiten Session des am 15. Juni 1893 gewählten Reichstages:
Das heißt, die steigenden Ausgaben des Staates infolge Bevölkerungswachstum, Heeres- und Flottenrüstung sowie Sozialpolitik müssen zuverlässig finanziert werden. Keine einfache Sache. Denn die "Finanzverwaltung des Reiches", betont der Kaiser, hat noch nicht ihre "endgültige Ordnung" gefunden. Ohne Schädigung des Reiches und der Einzelstaaten, kann eine Auseinandersetzung darüber nicht länger hinausgeschoben werden. Das Finanzwesen des Reiches ist "dergestalt aufzubauen", ordiniert der Kaiser, daß die bisherigen Schwankungen beseitigt und die Anforderungen in einem festen Verhältnis zu den Überweisungen stehen. Zudem muß den Einzelstaaten ein gesetzlich festgelegter Anteil an den Einnahmen des Reiches garantiert werden. Mit anderen Worten, vom neuen Staatssekretär des Schatzamtes erwartet die Reichsleitung, dass er die
von denen, wie Eugen Richter sagt, dass Volk nichts weiss, aber deren Lasten es tragen muss, abstellt. Das wird schwieriger, als es zunächst ohnehin im Lichte der Reichsfinanzpolitik und den Kabalen des Reichstages erscheint. Vorallem darf das Reichsschatzamt nicht zum Konkursverwalter werden. Obwohl die Staatseinnahmen um 20 Millionen Mark gestiegen sind, muss Posadowsky in der zweiten Beratung zum Reichshaushalt am 14. März 1894 im Reichstag konstatieren, gelang es nicht, die Kosten für die Militärvorlage auszugleichen. Tatsächlich musste der "Mächtigste europäische Staat" "in der Folge bei den Einzelstaaten fechten und sein Manko durch Steigerung der Matrikularbeiträge dieser Einzelstaaten decken". Der "geeignete Weg zur Ergänzung der Einnahmen des Reichshaushalts liegt", laut Johannes von Miquel, "nur in der Einführung beweglicher Steuern in der Form von Zuschlägen zu den Verbrauchsabgaben" (Vorwärts 16.11.1893). Die Lösung des Problems scheint simpel, indem man wie 1879 die indirekten Steuern erhöht. Die unlängst von ihm erschienene "Denkschrift" (1893) präsentiert dies als "Reform". Steuererhöhung als Reform - da lehnten die Sozialdemokraten dankend ab.
Die Ära Posadowsky: 12. August 1893 bis 24. Juni 1907
Staatssekretär des Reichsschatzamtes zurück Umweht vom Scheitern der Heeresvorlage, der Auflösung des Reichstages am 6. Mai 1893, den Kämpfen um die Agrarier und vor allem von der Hoffnung begleitet, dass Fröhliche-so-Weiterwirtschaften in der deutschen Finanzpolitik zu beenden, wird Arthur Graf von Posadowsky-Wehner
ernannt. Die Institution koordiniert und organisiert das Etat-, Zoll- und Rechnungswesen und installierte sich in Berlin Wilhelmstraße 61 / Wilhelmplatz 1. Im Unterschied zu den meisten anderen Abgeordneten im Reichstag ist er nicht auf die Nominierung als Mandatsträger durch eine Partei angewiesen. Die Ernennung zum Staatsseketär ermächtigt ihn zur Teilnahme an der Reichsgesetzgebung. In seiner Tätigkeit, was für ihn vorteilhaft war, verschränken sich exekutive und legislative Staatsaufgaben.
[Im Reichsschatzamt zurück] Helmut Freiherr von Maltzahn (1840-1923) war der Vorgänger von Posadowsky im Reichsschatzamt, das er fünf Jahre leitete. Er wurde "aus dem Reichsdienst gedrängt", weil er bemerkt August Bebel am 11. Dezember 1897 im Reichstag, "offenbar" "zu arbeiterfreundlich war". Um das Reichsschatzamt ranken sich viele Konflikte. Einige Erwartungen des Kaisers, was vor allem die Neugestaltung der Matrikularbeiträge und zuverlässige Finanzierung der Militärvorlagen betraf, erfüllte Maltzahn nicht. Finanzpolitisch und parlamentarisch wog es schwer, berichtet Eugen Richter am 30. Januar 1894 in der ersten Reichstagssitzung zur Beratung der Reichsfinanzreform, dass der Vorgänger im Reichsschatzamt daran scheiterte
Wilhelm II. sah die Politik der sozialen Versöhnung als gescheitert an. (Mommsen 2005, 68) Hierauf, also auf den richtigen Umgang mit der oppositionellen Sozialdemokratie musste eine Antwort gefunden werden. In dieser Weise überlagerten sich bei der Auswahl des neuen Schatzsekretärs fachliche, institutionelle und machtpolitische Anforderungen. Bei Amtsantritt von Graf von Posadowsky waren bereits bedeutende Grundlagen der Sozialgesetzgebung geschaffen. Der Reichstag verabschiedete am 15. Juni 1883 das Krankenversicherungsgesetz (Pflichtmitgliedschaft!), am 6. Juli 1884 das Unfallversicherungsgesetz (1911 in das Dritte Buch der Reichsversicherungsordnung überführt) und am 22. Juni 1889 das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung. Bismarck befürwortete nicht Selbstbeteiligung und Selbstverwaltung, weshalb diese Frage bis zu seinem Rücktritt am 20. März 1890 strittig bliebt.
Die Nichtbeteiligung der Arbeiter an der Verwaltung erscheint überlebt. Die Novelle zum Krankenversicherungsgesetz vom 10. April 1892 unterbreitete hierzu Vorschläge. Gegenwärtig diskutieren Fachleute für Sozialpolitik über die Ausdehnung, Organisation, Vereinfachung und Zusammenführung der Arbeitsversicherungsgesetze, die nicht zum Abschluß kommt. Jahre später, am 30. April 1903, fordert der Reichstag den Bundesrat auf, ein einheitliches Arbeiterversicherungsgesetz auszuarbeiten. Graf Posadowsky verfügt am 19. Juni 1905 die Übertragung der Aufgabe an den Geheimen Regierungsrat Walter Spielhagen (1857-1930), der ab 1903 im Reichsamt des Inneren tätig ist. Zentrum und Konservative legten bereits in der letzten Sezession Anträge zur Änderung des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vor, die aber nicht zur Beratung gelangten. Doktor Karl Heinrich von Boetticher (gestorben 1907 in Naumburg an der Saale), 1881 bis 1897 Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren, Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums, kündigte 1891/92 einen Gesetzesentwurf zur Unfallversicherung an, der aber ausblieb.
War er der Richtige? zurück Als die Sozialpolitik mit der Kaiserlichen Sozialbotschaft Anfang des Jahres 1881 begann, erinnert 1890 der Deutsche-Reichsanzeiger und Königlich-Preußische Staatsanzeiger in einer kleinen Studie, bemächtigt sich in "Reihen der Gesellschaft ein Gewisses Schrecken", die darin
Doch die Sozialpolitik, erklären das Amtsblatt des Deutschen Reiches und Preußens, zielt nicht auf die Gestaltung der Staatsverhältnisse ab, sondern hat die Zustände und Missstände innerhalb des bestehenden Gesellschaftskörpers zum Gegenstand. Trotzdem, erstmal Sozialismusalarm! So wird aber klar, warum die politische Öffentlichkeit die Einsetzung des Staatssekretärs für das Reichsschatzamt mit Frage begleitete:
"Der gräfliche Reichsschatz-Sekretär," raunt am 13. August 1893 der Vorwärts aus Berlin, "ist politisch ein völlig unbekannter Mann." "Wie und wo er sich für die Aufgaben des neuen Berufs vorbereitet hat," nörgelt er herum, "wissen die Götter und die, die ihn berufen haben." Sei es nun, um den Oppositionsgeist zu befriedigen oder Missklänge in die Amtsübergabe von Maltzahn an Posadowsky zu intonieren, macht sich die "Kreuzzeitung" über den letzten Sonnabend im Reichsschatzamt her: "Der Finanz-Dilettant unterweist den in Finanzfragen durch unberührte Jungfräulichkeit sich auszeichnenden Landeshauptmann Graf Posadowsky in fünf Tagen so ausgiebig, daß er orientiert ist ...." Die Polemik beider Presseorgane übergeht die von ihm während Posener Zeit in der konfliktreichen Mittelebene der Staatsführung erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten der Leitung und Verwaltung. Auf der Grundlage einer soliden Ausbildung als Jurist lernte er nicht nur verwalten, dekretieren, regieren, reden, publizieren und notwendige Arbeitsaufgaben zu formulieren. "Nicht Theorien sind maßgebend," lautete sein Motto, "sondern die Menschen, wie sie sind und die die Gesetze ausführen." (RT 5.10.1917, 3698) Zugleich war ihm ein systemisches Denken und methodisch orientiertes Herangehen an alle Aufgaben eigen. Nicht zu vergessen, seine passable Form des öffentlichen Auftretens, die ungekünstelte Bescheidenheit, Bereitschaft und Fähigkeit zum vernünftigen Gespräch mit Bürgern aller sozialen Klassen und Schichten, was bei der Lösung politischer Aufgaben hilfreich und ihn für Führungsaufgaben empfahl. Anders als die Kreuzzeitung und der Vorwärts zieht der aus Leipzig stammende Grenzbote die Linien der beruflichen Entwicklung richtig nach, indem er seine früheren Aufgaben als Landrat, Abgeordneter und Landeshauptmann der Provinz Posen "als denkbar wünschenswerte Vorbereitung für seine jetzige Stellung [als Staatssekretär]" betrachtet. Dabei war ihm die Pflicht nicht nur Qual. Es kam ihn entgegen, entsprach seinen Interessen und geistig hohen Ansprüchen, dass er in einer "sehr bevorzugten Lage, von einem weitausschauenden Mittelpunkt, von einer sehr hohen Warte aus die Gesamtlage" übersehen konnte. (DG 1906, 464 + 462) Ob ihn alles an seinem Geschäft gefallen oder behagt, bleibt bei seinem Naturell fraglich. Ihn belastete die Wahrnehmung der umfangreichen Repräsentationsaufgaben und öffentlichen Auftritte, die sein Dienst als Staatssekretär von ihm verlangte. Da war zum Beispiel die Teilnahme an der Einweihung des Denkmals für Kaiser Wilhelm II. am 18. Oktober 1893 in Bremen. Außer ihm erwiesen dem feierlichen Akt Reichskanzler Caprivi, Ministerpräsident Graf zu Eulenburg, Freiherr von Berlepsch, Thielen, Freiherr von Marschall, General von der Goltz, Vice-Admiral von Hollmann und andere ihre Ehre.
An seiner Leistungsfähigkeit bestanden keine Zweifel. Und an der Treue zur Krone? Auch hier war kein Anlass zur Sorge. Der Stallgeruch passte. Die Familie entstammt dem schlesischen Uradel und der Vater war königlicher Oberlandesgerichtsrat. Sohn Arthur bildete und festigte als Referendar, Gutsverwalter, Landrat und Abgeordneter der Freikonservativen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus das konservative Standes- und Selbstbewußtsein weiter. Der neue Reichsschatzsekretär "passt trefflich in die leitenden Kreise hinein. In den Verhandlungen der dritten ordentlichen Generalsynode aus dem November-Dezember 1891 bekannte" er sich "als begeisterter Anhänger der konfessionellen Volksschule und warnte dringend vor einer "Überschraubung" der Ziele unserer Seminarien, weil sonst die Schulkinder viel mehr lernten, als ihnen gut sei." (Vorwärts 25.8.1893) Seine ersten Reden im Reichstag fanden nicht die erhoffte Resonanz. Wo bleiben die Perlen der Redekunst, fragte der "Vorwärts", das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Wo sollten die sich, fragen wir zurück, denn herauskristallisieren? Indes nicht etwa in der Debatte über Hundesteuer, Vagabunden oder Gendarmerie? Später liest man über ihn eine derartige Kritik höchst selten. Im Fall der Fälle erfuhr sie dadurch noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit als gewöhnlich. Was schlecht und gut, ist eben immer von den Interessen und dem Vorwissen des Zuhörers abhängig. In der Tendenz waren Posadowskys Reden hochwertig, empirisch abgestützt, analytisch ausgerichtet, übersichtlich aufgebaut und sehr oft mit konkreten Folgerungen oder Antworten an die Abgeordneten versehen. Es waren, schlicht ausgedrückt, interessante Reden. Seine politische Sprache meidet Phrasen und Leersätze, scheut keine Urteile und entfaltet, mit Ausnahme vom Sommer 1914 bis Anfang 1918, wo sie stark, zeitweise gegen Null schwindet, eine beeindruckende analytische Kraft. Seine Redekünste lassen in der Reaktion der politischen Konkurrenz erste Probleme erahnen. "Seine trockene und ernste Art passte überhaupt nicht zu der glitzernden Persönlichkeit des vierten deutschen Kanzlers [Bernhard von Bülow]." (Berliner Tageblatt 1932) Über seinen Vorgesetzten, Bernhard von Bülow (1849-1929), seit Oktober 1897 Staatssekretär des Äußeren und ab 1900 Reichskanzler, erzählt man es ganz anders: "Schöne Reden" hielt er, daran mangelte es nicht, referiert am 14. September 1898 Eugen Richter über dessen Flotten-Rüstungs-Auftritte im Reichstag. "Aber schließlich fragt man sich, was hat er denn eigentlich gesagt?"
Ist er ein Agrarier? zurück Die Sozialisten schimpften die Junker nimmersatte Agrarier, Geldsack-Politiker, Schnapsbrenner, Brotverteuerer oder Päppelkinder. Es waren für sie Männer mit einem Jahreseinkommen von 6.000 bis 10.000 Mark, die trotzdem außerstande waren, die Aufwendungen für kostspielige Bälle, Reitpferde und die Berliner Luxuswohnung zu finanzieren. "Weil sie an Prunk und Verschwendung gewöhnt sind", schiebt der Autor von "Der Junker Macht und Einfluss" (1901) nach. Einen Tiefpunkt erreicht die symbolische Herabsetzung der Junker durch die Sozialdemokraten am 15. Dezember 1897 (245). Als der Reichstag die russischen Handelsverträge nur mit kleiner Majorität angenommen, rollt ihn August Bebel schnell noch einige Brocken vor die Füße:
Die Stimmung war durch die Debatte um das Zollgesetz und den Zolltarif aufgepeitscht, als er sie ohne großes Federlesen in die Sozialhilfe einstufte:
Damit die Genossen, Genossinnen und SPD-Sympathisanten am 16. Juni 1898 zur nächsten Reichstagswahl das "richtige ankreuzen", schmettert am 3. Juni der Vorwärts (Berlin) in die Massen:
Es ist unschwer erkennbar, daß die Junker-Frage für die Sozialdemokraten im Reichstag von großem Gewicht war. Im Rahmen dessen, stellte sich die Frage:
Ihnen muteten seine Einlassungen dazu öfters befremdlich an. Dabei störten sie sich weniger an Äußerlichkeiten oder rhetorischen Missgriffen. Es war etwas Anderes, Grundsätzlicheres, was das Bild vom junkerfreundlichen Staatssekretär zu befestigten drohte. Ihrer Auffassung nach vernachlässigte er die objektive Stellung der Junker im System des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Wohingegen die Genossen ihr politisches Urteil auf die Analyse der sozioökonomischen Verhältnisse in der Landwirtschaft und den darauf basierenden Sozialstrukturen aufbauen. Eine konzentrierte Einschätzung hierzu legt der SPD-Parteitag mit der Agrar-Resolution im November 1894 vor, wo es heißt:
August Bebel wirft ihm am 15. Dezember 1897 (252) im Reichstag vor, "sein ganzes Herz ist ein heiß agrarisches Herz". Adolf zu Dohna-Schlodien (1846-1905) vermutet dahinter ein Vorurteil, das absichtlich von der Presse popularisiert wird, aber nicht zutreffend ist. Um dies richtigzustellen, interveniert der Reichstagsabgeordnete der Deutschkonservativen Partei (DKP) am 10. Januar 1901 in der Vossischen Zeitung:
Was ist also ein Junker? Cum grano salis antwortet Posadowsky am 12. Dezember 1901 im Lichte der Angriffe der Sozialdemokraten während der Ersten Beratung des Zolltarifgesetzes darauf:
Somit liegen jetzt auf die Frage "War er ein Agrarier?" zwei konkurriende zur Entscheidung vor. Mit der Zollpolitik von 1901/02 steht sie erneut im Raum, und zwar in aller Schärfe.
Geb`
Acht
Du schlauer Treiber du zurück Kaiser Wilhelm II. erteilt am 16. November 1893 in der Thronrede zur Eröffnung der 2. Sezession des am 15. Juni 1893 gewählten Reichstages den klaren Auftrag:
Kann der neue Staatssekretär des Reichschatzamtes die Matrikularbeiträge ordnen, die Abgaben der Länder an den Zentralstaat, in einer akzeptablen Systematik darstellen? Wie wird er die Lasten der Reichsfinanzreform verteilen? Wird er die Flotten- und Hochrüstung durch Erhöhung der indirekten Steuern, die ja diejenigen sind, welche das Reich in der Hauptsache zur Verfügung hat, aber vorzugsweise die minderbemittelten Klassen schwerer belasten als die Wohlhabenden, finanzieren? Wird er den Staatshaushalt auf eine solides Fundament stellen können?
Die erste wichtige Aufgabe für den neuen Reichsschatzsekretärs kündigt sich am 27. November 1893 mit ersten Beratung zur Festsetzung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend des Reichshaushaltsgesetzes 1894/95 im Deutschen Reichstag an. Sein Vorgänger wies für das Haushaltsjahr 1892/93 ein Defizit von 6 Millionen aus. Nachdem die Matrikularbeiträge erhöhte wurden, ergab sich kleiner Überschuss von 7 4/5 Millionen Mark. Diese Art und Weise der Haushaltsfinanzierung befriedigte Posadowsky nicht. Er will das Reich durch die Erschließung und Bewilligung neuer Einnahmequellen finanziell emanzipieren. Dann übernimmt das Rednerpult ein Vertreter des Zentrums. Nach ihm folgt August Bebel und macht eine klare Ansage: "Wenn Deutschland je ein unglückliches Unternehmen unternommen hat, dann war es die Kolonialpolitik. Das Zentrum ist stets für die Kolonialpolitik eingetreten, um durch Missionen des Christenthums unter den Schwarzen zu verbreiten." Und dafür erhöht sich der jährliche Zuschuss von 2 1/2 Millionen auf 3 1/2 Millionen Mark. Das Zentrum will diese Politik. Würde man allein die finanziellen Opfer für die Hebung des Volkswohlstandes einsetzen, könnten damit bessere Resultat erzielt werden. Nach 1 ½ Stunden löst ihn auf der Tribüne der Kriegsminister ab, der jetzt einiges zu tun hat, um die Keulenschläge vom SPD-Frontmann wieder zu richten. Zur Debatte stand nach Eugen Richter von der Deutschen Fortschrittspartei eine Einnahmesteigerung von 114 Millionen Mark. Am nächsten Tag (1893,126) rechnet er vor, dass es dem Volk summa summarum 100 Millionen Mark kosten wird; 60 Millionen für die Heeresvorlage und 40 Millionen für das Reich. Dazu kommen die schweren Lasten der indirekten Steuern, die sich mit der Militarisierung des Staates weiter erhöhen. Von 1872 bis 1893 stiegen sie von 240 auf 680 Millionen (Karl Bachem 1894). Eugen Richter stellt am 30. Januar 1894 im Reichstag die Frage nach der Steuergerechtigkeit. Unterschwellig ergeht der Vorwurf, dass die besser verdienenden Gruppen der Gesellschaft nicht genügend zum Steueraufkommen beitragen. Mit seinen Worten ausgedrückt: "Die Steuern, über welche das Reich verfügt, treffen vorzugsweise die minderbemittelten Klassen, und die Hauptausgaben des Reiches sind solche für Militär und Marine." Die unteren Klassen tragen eh schon die Hauptlast schwere Last. " . und umso ungerechter ist es gerade die indirekten Steuern, welche ebenfalls von diesen Klassen getragen werden, noch zu erhöhen." Posadowsky, vermutlich etwas unter dem Eindruck von Eugen Richter stehend, erhält erneut das Wort und schlägt vor, dass bei Annahme der Vorlage, entschieden werden müsse, wie die Lasten auf die Interessengruppen verteilt werden.
Die Vorgänge um die Matrikularbeiträge verursachten zunehmend Ärger, und könnten, wenn man so weiter macht, gar Partikularambitionen bei den Ländern wecken. Die Regelung der Finanzen zwischen dem Reich und den Einzelstaaten war eine politische und finanzielle Notwendigkeit. Die Beendigung der unglückseligen Praxis, erklären 1925 (391) Doktor Hans von Arnim und Professor Doktor Georg v. Below, nannte man damals Finanzreform. Ihr Ziel war ein stabiles Gleichgewicht zwischen den Leistungen des Reiches an die Bundesstaaten und der Länder an das Reich herzustellen, was wiederum eine bessere Finanzausstattung erforderte. Folgerichtig begann man umgehend, nach außerordentlichen Mitteln zu suchen. Im Sinne der Neuordnung des Finanzwesens, kam die Bildung eines Reichsministeriums in Gespräch, was aber verworfen wurde.
[Mißstimmung zurück] Der Staat zieht immer neue und höhere Steuern ein und verteilt sie auf die Schultern derjenigen, die am wenigstens im Stande sind sie zu tragen. Unter ihnen leiden besonders die Billig-Löhner, Arme und durch Krankheit geschwächte Personen und von schicksalsschlägen getroffene Haushalte. Aber auch der Mittelstand wird stark belastet. Die indirekten Steuern stiegen im Reich laut Karl Bachem (1894) von 1872 bis 1893 von 240 auf 680 Millionen Mark. Johannes von Miquel Vorschläge zur staatlichen Geldeintreibung berühren die öffentliche Sittlichkeit des Klassenstaates, wenn er die Steuer für Lotterielose von 5 auf 8 Prozent erhöhen will, um für den "Moloch" fünf Millionen herauszuschlagen. Dass das Lotteriespiel generell werden muss, dafür haben die Berufspolitiker obendrein kein Gespür und Sinn. (Vorwärts 1.9.1893) Der Nationalliberale Ernst Bassermann (1854-1917) gibt 1895 vor dem Reichstag zu bedenken: "Es kann ja zweifellos nicht geleugnet werden, daß in weiten Kreisen unserer Bevölkerung eine erhebliche
vorhanden ist .... " (RT 13.5.1895, 2250) Für Posadowsky stellte die Mißstimmung in der Gesellschaft ein Problem dar. Unter Umständen konnte sie die Erfüllung seiner Aufgaben erheblich erschweren und die politischen Pläne durchkreuzen. Die schwierigste aller Aufgaben die ihn traf, war, dass er Heer und Marine ausfinanziert. Doch längst nicht alle Bürger möchten dem "Moloch des Militarismus" (Eugen Richter) weitere Opfer bringen. Nicht nur Sozialdemokraten, auch der Linksliberale Eugen Richter (1838-1906) von der Deutschen Freisinngen Partei wehren sich recht öffentlichkeitswirksam dagegen.
Reichsfinanzreform zurück Am 29. Januar 1894 tagt der Reichstag zur
"Das Finanzreformgesetz ist eine außerordentliche komplizierte Materie die eine eingehende Kenntnis unseres ganzen Finanzwesens erfordert, und es ist klar, dass weite Kreise der Bevölkerung, die von einem solchen Projekt nur durch die Zeitungen Kenntnis erhalten haben, das Verständnis für eine derartige großartige organisatorische Maßregel fern liegt und schwierig ist." (Posa RT 29.01.1894) Zur Eröffnung der Reichstagssitzung spricht der Staatssekretär des Reichsschatzamtes und wirklicher Geheimer Rath Graf von Posadowsky. Die Regierung erwartet eine "organische Finanzreform" (Posadowsky), das heist ein System, wo diese Schwankungen zwischen Überweisungen und Matrikularbeiträge nicht mehr auftreten. Folgende finanzpolitischen Aufgaben waren vordringlich zu lösen: Erstens. Gegen die Ausdehnung der indirekten Steuern und das Abgabensystem kommt zunehmender Unwillen auf. Zweitens. Die Reichsfinanzpolitik muss dringend die Zahlung der Matrikularbeiträge reorganisieren. Drittens. Ist denn die Volkwirtschaft schlechterdings in der Lage, die wachsenden finanziellen Belastungen der Flottenrüstung zu tragen? Viertens. Schlägt Posadowksy finanzpolitisch den richtigen Weg ein? Das Reich verfügte über hunderte Millionen an Mehrerträgen, um den "Moloch des Militarismus" (Eugen Richter) zu finanzieren. Hätten Besitzsteuern diesen Prozess nicht zwangsweise ausgebremst? 1906 wird in den Ländern die Erbschaftssteuer und 1913 die Besitzsteuer nebst Wehrbeitrag eingeführt.
Was will die Reichsfinanzreform?
Das Reichsfinanzreformgesetz ist politisch und verwaltungstechnisch umstritten. Im Verlauf der Debatte zur Reichstagsvorlage vom 29. Januar 1894 (908) bilden sich drei Gruppen: Die Erste, wo die Freisinnigen tonangebend, lehnen die Reichsfinanzreform ab. Sie wollen keine weitere Anhebung der indirekten Steuern, dafür aber die Reichseinkommensteuer einführen. Letzteres ist gegenwärtig nach Anschaung der Mehrheit undurchführbar, weshalb eine erneute Kontroverse zu diesem Plan unterbleibt. Eine zweite Gruppe verweigert die Zustimmung zur Finanzreform, wegen der gegenwärtig ungünstigen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine dritte Gruppe von Abgeordneten, setzt sich aus Konservativen und Nationalliberalen zusammen und steht dem Vorhaben geneigt gegenüber, das heisst sie sind bereit, die indirekten Steuern zu erhöhen. Johannes von Miquel, Finanzminister von Preußen, stürzt sich mit Emphase auf die Finanzreform und überbringt den Reichstagsabgeordneten die frohe Botschaft, dass alle, außer den Freisinnigen, im preußischen Abgeordnetenhaus vertretenen politischen Richtungen diese unterstützen. Ihre Ablehnung, warnt er, würde den Überhang der Matrikular-Beiträge vergrößern und die Einzelstaaten könnten den Föderativen Staat dann nicht mehr als Wohltäter empfinden. Es blieb das Grundproblem, worauf nachdrücklich Doktor der Rechte Ernst Lieber (1838-1902) hinwies: Zölle und indirekte Steuern, die 130 Millionen Mark übersteigen, müssten vom Reich unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl den Einzelstaaten überwiesen und gegebenenfalls als Matrikularbeitrag zurückgefordert werden. So verlangt es die Franckensteinsche Klausel. Auf diese Weise haben die Einzelstaaten 287 Milliarden Mark zurückerhalten. Deshalb ist ein "wahres Glück", dass wir uns hier über ihr "wahre Bedeutung" beraten können, betont der und Zentrums-Abgeordnete. Die Schuldentilgung im Reich, ist gegenwärtig nur durch die Erhöhung der indirekten Steuern zu erreichen. Beim "Darniederliegen von Handel und Gewerbe" (Lieber) ist dies kein guter Weg. Die Sozialdemokraten nehmen seine Vorhaben nicht so positiv auf, wie man es allgemein erwarten würde. Denn der Betrag der durch sein Konzept neu aufgebracht werden kann, beträgt lediglich 94 Millionen Mark, was nicht mal die Kosten der Militärvorlage deckt. Miquel könnte,streute am 16. November 1893 der Vorwärts (Berlin), zum Konkursverwalter werden. Bald setzt das fröhliche Weiterwirtschaften ein:
mit anderen Worten Bankrott, das ist das Ergebnis der 20jährigen Finanzwirtschaft der besitzenden Klasse im "großen" Deutschen Reiche." Der Reichstag sucht in einer mehrtätigen Aussprache eine Antwort darauf, welche Steuererhöhungen generell in Frage kommen. [a] Börsensteuer. Sie lehnt Posadowsky mit Rücksicht auf die allgemeine Lage in der Wirtschaft und Handel ab. Wir dürfen uns nicht verhalten "wie jener der den Baum fällt, um die Früchte zu pflücken". Der Berliner Börse vertraut dann ihre Werte ausländischen Kapitaleigner an. Wenn das Geschäft nicht lohnend, werden ihr Kapital herausziehen, befürchtet er. [b] Wehrsteuer. Zu ihr sollen die vom Militärdienst freigestellten verpflichtet werden. Vielleicht wäre es möglich, so diskutiert man, wenn man für die Bemessung eine Einkommensgrenze einzieht, was eine amtliche Prüfung erfordert, und aller Erfahrung nach einem ziemlichen Verwaltungsaufwand, ohne Aussicht auf einen angemessenen Ertrag, verlangt. Schwerer als dieser Einwand wiegt das Los der Betroffenen. In welchen Zustand befinden sie sich, fragt Posadowsky, die vom Dienst im Heer freigestellt oder entlassen wurden? Wird man einen Kellner mit tauben Ohr einstellen? Nimmt man einen Jäger, der schielt? Wer will einen Bediensteten, der stammelt. Und wer möchte einen Gesellen mit einem steifen Finger beschäftigen? "Nun sollen wir uns von diesen Leuten auch noch Steuern erheben!" Er möchte keine Blinden, Lahme und Taube zur Wehrsteuer heranziehen. (Posa 29.1.1894, 909) [c] Die Geschichte der deutschen Landwirtschaftspolitik durchzieht der Streit um die "Liebesgaben", eine Form der staatlichen Subventionen für Agrarier und Grundbesitzer. Immer wieder flammen darüber die Diskussionen im Reichstag auf. Meist in Verbindung mit der schwierigen Lage der Landwirtschaft im Osten Deutschlands oder mit der Trinkspiritus- und Branntweinsteuer. So geschah es am 29. Januar 1894 (909), als Graf Posadowsky im Reichstag ausführt: "Wir haben auch wieder einen alten Bekannten bei der ganzen Debatte gefunden:
Anlass hierfür ist für ihn die Nachricht, dass in Preußen gegenwärtig die Pachtgebühren für die Domänen sinken. Was das bedeutet, "wenn die Landwirthe immerfort selbst sagen, "das ist ein Gewerbe, bei dem man zugrunde geht", will er, um Verständnis für die Notwendigkeit Subventionen zu erzeugen, gründlich darlegen. Hierzu referiert er aus einem Dokument zur Lage der Landwirtschaft, das ihn von einer als zuverlässig bekannten Person überreicht wurde, den die Landwirtschaft ernähren soll, aber der sich oft überfordert fühlt.
Dieser Herr fasste das Schicksal der Landwirtschaft im Osten Deutschlands mit der Untersuchung seit dem Jahre 1881 zusammen. Von den 126 selbständigen Gutsbesitzern sind 42 durch Zwangsverkauf vom Boden getrieben. Weitere 9 stehen gerade vor diesem Ereignis. 27 entzogen sich der Entscheidung durch Verkauf. Viele verkaufen, ehe die Subhaftation (Zwangsversteigerung) zuschlägt, weil sie Banken finden, die ihr Kapital retten wollen und Strohmänner auf das Gut setzen. "Meine Herren, ich glaube, das ist ein Dokument, das doch einmal ein klassisches Beispiel von der Lage der Landwirthschaft im Reiche giebt, und ich glaube, meine Herren, unter solchen Verhältnissen kann man nicht die Forderung erheben, das ein landwirthschaftliches Produkt, das bereits über 200 Prozent seines Werthes Steuer trägt, noch weiter besteuert werden sollte, während man andere Luxusartikel wie Tabak, die 16 Prozent vom Werthe als Steuer tragen, nicht höher besteuern will." (Posa RT 29.1.1894, 909) "Aber vergessen Sie hierbei etwas nicht:, warnt Graf Posdowsky 1905, "Großgrundbesitz ist auch unbedingt nötig, er ist nötig für unsere hoch entwickelte Selbstverwaltung. .... Der Großgrundbesitz ist aber auch bisher immer der Führer im landwirtschaftlichen Fortschritt gewesen. (Sehr richtig!" Der Großgrundbesitz kann Versuche machen mit neuen Viehrassen, neuen Düngemethoden, neuen Maschinen, Versuche, die manchmal fruchtlos sind, die in der Regel sehr kostspielig sind, und die der kleine Mann nicht riskieren kann. (Sehr richtig!)" (Posadowsky RT 22.2.1905, 4699) Manchmal dienen Eigentum und Reichtum auf dem Land dazu, um persönliche Eitelkeiten zu befriedigen. Nur das Schicklichkeitsgefühl des einzelnen und des ganzen Volkes kann gegenüber dem falschen Luxus erzieherisch wirken. Der Hang zu falschen Luxus, erklärt Posadowsky 1909 den Delegierten des zwanzigsten Evangelisch-Sozialen Kongresses in Heilbronn, führt zu seelischer und körperlicher Entartung, die auf die Verhältnisse auf dem Land zurückwirken. Väter die sich durch Fleiß eine eigene Stellung geschaffen, "haben gar zu oft verwöhnte Söhne, und der Volkswirt muss es dann freudig begrüßen, wenn übel verwendetes Gut in bessere Hände übergeht."
"Diese Liebesabgabe ist notwendig, weil sonst unsere ostelbischen Großgrundbesitzer nicht mehr in der Lage sind, die notwendigen Zuschüsse für Herrn Sohn Leutnant und den Herrn Sohn Referendar zu zahlen." Solche rhetorischen Vorwürfe ordnet er als Kaffeeklatsch-Gespräche ein und verteidigt die Subventionen mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage der östlichen Landwirtschaft. (Posa RT 25.4.1912, 1426 bis 1428) [d] Inseratensteuer. Sie liegt quer zu den Interessen der Stellensucher und bringt unzumutbare Belastungen für diejenigen, die Todesanzeigen aufgeben müssen. - Abgelehnt! [e] Biersteuer. Hiergegen opponieren die Bayern. "Ich habe aber die Überzeugung," sagt Posadowsky am 23. März 1895 im Reichstag, "die Bierschlange wird immer wieder ihr drohendes Haupt erheben." [f] Tabakfabriksteuer. In einem Kampf-Auftritt wendet sich am 19. Februar 1895 der Reichstagsabgeordnete Fritz Geyer im großen Saal vom "Weißen Hirsch" in Magdeburg gegen die Tabakfabrikatsteuer. Während sich die Konservativen und Nationalliberalen für diese Steuer erwärmen, die Freisinnige Volkspartei nicht den Mut des Protestes besitzt, bleibt als Gegner nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands übrig (VS 13.2.1895). An vielen Orten im Reich stieß ihre Einführung auf Ablehnung. In der
wird das Gesetz zum Zollkartell mit Österreich-Ungarn, der Gesetzesentwurf über die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Personen des Soldatenstandes des Reichsheeres und der Marine von Feldwebel abwärts beraten. Außerdem steht zum zweiten Mal das Tabak-Steuergesetz auf der Tagesordnung. Die Tabakarbeiterklasse umfasst circa 300 000 bis 400 000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Es ist eines der gesundheitsschädlichsten Gewerbe. Nikotinvergiftung und Stäube verursachen verschiedene schwerer Krankheiten. Trotzdem werden in diese eBranche der deutschen Industrie, die niedrigsten Löhne gezahlt. Im Durchschnitt verdient eine Tabakarbeiterfamilie, Mann und Frau sind also zusammen tätig, 14 bis 20 Mark pro Woche, was in allen Gegenden des Deutschen Reiches kaum groß voneinander abweicht. (Nach DNZ 1894, 567, 572)
"Man möge eine blühende Industrie nicht lange durch solche Projekte beunruhigen", verlangt der Abgeordnete Ernst Bassermann (1854-1917), ab 1905 Vorsitzender der Nationalliberalen Partei (NLP), und lehnt die Fabrikat-Steuer ab. Wilhelm von Kardorff (1828-1907), Deutsche Reichspartei, akzeptiert diese Steuer, weil wir ein Kulturstaat sind und nicht hinter anderen zurückbleiben wollen. "Wir sind der Überzeugung," stellt Hermann Molkenburg (SPD) klar, "daß der größte Teil der Mehrbelastung des Tabaks auf die Arbeiter übergewälzt." Die indirekten Steuern, fordert der Reichstagsabgeordnete Karl Bachem (1858-1945), müssen im richtigen Verhältnis zur Belastung der mittleren und oberen Klassen mit den direkten Steuern stehen. In den letzten Jahren sind sie bedenklich gewachsen, was die minderbemittelten Klassen hinreichend belastet. Ernst Bassermann (*1854) aus Mannheim weist mit allen ernst darauf hin, dass "ja zweifellos nicht geleugnet werden" kann, "daß in weiten Kreisen der Bevölkerung
gegen die Ausdehnung des indirekten Steuersystems vorhanden ist ...." (RT 2250) Jedenfalls werde das Zentrum das Tabak-Steuergesetz ablehnen. Ansonsten befürchtet Karl Bachem, dass auch die Einzelstaaten die direkten Steuern erhöhen. (Vgl. Bachem 30.1.1894 und 13. Mai 1895) Posadowsky hält an der höheren Besteuerung fest, die er allerdings als maßvoll vorstellt, weil sie sich mit 10 Millionen Mark Einnahmen pro Jahr begnügt. Dadurch würden die minderbemittelten Bevölkerungsklassen nur ganz gerinfügig betroffen und die sozialen Bedenken gegen die Vorlage deutlich abgemindert. Doch leider habe die Kommission, zu seinem schmerzlichen Bedauern die Vorlage abgelehnt. Da kam alles Mögliche zu Sprache, zum Beispiel, dass ein gesteigerten Verbrauch des indischen Tabaks zu erwarten ist. Um die Folgen aufzufangen, müsste der Wertezoll eingeführt werden, was aber langwierig und deshalb in dieser Session nicht mehr realisierbar ist. Der National-liberale Abgeordnete Ernst Bassermann aus Mannheim lehnt die Tabakfabriksteuer im Interesse der Industrie ab. (Vgl. LV 15. Mai 1895) Am 7. Februar 1906 beschließt die Steuerkommission des Reichstags, dass der Doppelzentner feingeschnittener Tabak mit 800 Mark und der Doppelzentner Zigaretten mit 2000 Mark Eingangszoll belastet wird. Auf jede im Inland hergestellte Zigarette werden nach dem Staffeltarif auf die Ein-Pfennig-Zigarette einzehntel Pfennig, die Zwei-Pfenning-Zigarette zweizehntel Pfennig, die Drei-Pfennig-Zigarette sechszehntel und so weiter Steuern erhoben. Zigarettentabak im Pack von zwei bis 3 Mark pro Kilogramm verteuert sich ebenfalls. Im Ergebnis summieren sich die Preissteigerungen auf 10 bis 25 Prozent. Zentrum und Nationalliberale unterstützen dies. Sozialdemokraten (Friedrich August Karl Geyer, Herman Molkenbuhr, August Kaden, Hinrich Schmalfeldt, Adolph Johann von Elm) protestieren gegen die bedrückenden Belastungen des Konsums und der Industrie. (Vgl. Tabaksteuer 6.2.1906) [g] Weinsteuer. Vor allem Württemberg bringt Einwände vor. Der Bevollmächtigte des Bundesrates für das Königreich Preußen und preußische Finanzminister Doktor Johannes von Miquel (1894, 921) hält dagegen: Der Wein darf als Luxusartikel nicht frei bleiben. Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, plustert er sich auf und behauptet: Wir vertreten die öffentliche Meinung. [i] Zuckersteuer. Die Debatte läuft ins Leere. "Welchen tatsächlichen Wert diese postume Debatte über die Zuckersteuer haben soll," äußert am 12. März 1897 Posadowsky im Reichstag offen, "ist mir bis jetzt nicht ganz klar geworden, weil gar kein Abänderungsantrag vorliegt."
Was wird aus der Reichsfinanzreform? zurück Wann wird uns das Reichsschatzamt vom Überfluß befreien? "Der Wahre Jacob" zaubert im September 1894 seine V o r a h n u n g in der Karikatur "Venus die Auftauchende" (1894) hinein.
Was wird kommen? Kann er die Reform durch die Stromschnellen steuern? Er weiss es nicht genau und blickt hinüber in das Lager der Patrioten, zu den Bürgerlichen. Auch dort, fürchtet er, könnte die Stimmung umkippen. Was wenn die "Unzufriedenheit ins Unangemessene steigt"? Und den Sozialdemokraten, was nicht schwer vorauszusehen, lacht das Herz im Leibe. Denn sie brauchen den Baum gar nicht mehr zu schütteln, "die Früchte fallen ihnen schon durch den Sturm der Parteien in den Schoss". Ist das so? Wieder die Frage: Wird das so eintreffen? [Finanzreformgesetz 1895 zurück] Eine weitere Beratung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die anderweite Ordnung des Finanzwesens des Reiches, optimistisch oft als Finanzreformgesetz bezeichnet, findet
statt. Wie üblich leitet die Verhandlungen der Reichsschatzsekretär sie mit einem Referat ein. Er glaubt nicht an die Fruchtbarkeit der Poststeuer und hält die Einführung der Wehrsteuer weiter für nicht möglich. Ebenso die Durchführung des Tabakmonopols, doch seien hier unbedingt höhere Einnahmen notwendig. Nach ihm spricht Eugen Richter von der Freisinnigen Volkspartei (FVp):
widerspricht den Reichs- und Einzelinteressen des Staates und unterläuft das Einwilligungsrecht des Reichstages. Die bisherigen finanzpolitischen Arbeitsweisen stimulieren niemanden zur Sparsamkeit. Eine Kritik, welche die Sozialdemokraten teilen. Wilhelm Liebknecht sah bereits am 14. Januar 1887 die "Volkvertretung zu einer Geldbewilligungsmaschine" herabgedrückt. An diesen zwei Beratungstagen bestritt niemand die Notwendigkeit der Erhöhung der Steuern. Dem Reichschatzsekretär der 33 Millionen Mark neu Steuern für die Militärvorlage eintreiben will, ist ein Rechenfehler unterlaufen. (Es wurde gar nicht die Vorlage angenommen die 58 Millionen forderte, sondern nur eine, welche 44 Millionen verlangte. Sind davon nur 25 bewilligt, bleiben nur 19 zu decken.) Vor den letzten Verhandlungen im Reichstag hört die Ostdeutsche Rundschau (26.2.1895) aus Wien: "Über die Belastung der schwachen Schultern werde jetzt allgemein geklagt; es wird sogar von schulterschwachen Millionären gesprochen." [Gescheitert im Überfluss zurück] Am 13. Mai 1895 erhält die Reichsfinanzreform zusammen mit der an diesem Tag vorgelegten Tabaksteuer-Vorlage ein schlichtes Begräbnis. Einst war sie auf der Finanzministerkonferenz am 26. November 1893 ausdrücklich als ihr Rückgrat bezeichnet worden. Resigniert packt Posadowsky, berichtet das Voralberger Volksblatt aus dem Deutschen Reichstag, gegen nachmittags 3 Uhr seine mächtigen Aktenstöße in eine schwarze Ledermappe. Dann verkündet der Präsident, dass die Vorlage in allen Teilen abgelehnt ist. Zuvor unternahm Posadowsky nochmal den Versuch die Reform zu retten, und mahnte, nichts Lebendes mit Totem zu begraben. Die Reichsfinanzreform scheiterte. Die Franckenstein`sche Klausel, die abgeschafft werden sollte, verschwand erst mit dem Gesetz vom 14. Mai 1904. An der Reichsfinanzreform hing sein Herzblut. Was passiert, war unbefangen betrachtet ein Eklat. Ende 1919 reicht der Hauptverantwortliche in "Deutschlands Erneuerung" die Entschuldigung nach. Unter den zwischen Bundesstaat, Bundesrat und Einzelstaaten gegebenen Beziehungen, stottert er sich ab, war sie nicht möglich. Genauer wird er nicht. Wahrscheinlich waren es folgende Schwierigkeiten: E r s t e n s die Steuerquellen, was Verlauf und Form der Reichstagssitzung vom 29. Januar 1894 gut veranschaulicht, müssen aus allen möglichen Verkehrsformen von Waren, Umsätzen und Geld abgespalten, sprich zusammengekrazt werden. Z w e i t e n s. Noch bestehen zwischen den deutschen Einzelstaaten große wirtschaftliche Unterschiede fort, weshalb viele das System Einkommensteuer nicht aufbauen können. Deshalb ist es d r i t t e n s fraglich, ob man sie auf die Gefahr hin noch größere Ungerechtigkeiten hervorzubringen über ein einheitliches Steuerrecht brechen kann. Ursache des Scheitern der Reichsfinanzreform waren objektiv bestehende Entwicklungsunterschiede zwischen den deutschen Länder. "Venus die Auftauchende" wird noch nicht zur Steuer-Execuition erscheinen. Vielmehr muss sich - O-Ton! - "Der arme Posadowsky" im Sommer 1895 mit Millionen von Überschüssen im Reichsetat herumschlagen. Eine gefährliche Lage. Womöglich verliert jetzt der Letzte noch den Glauben an die notwendige Vermehrung der Staatseinnahmen durch Tabakfabrikat-, Bier- und Weinsteuer. Der oberste Finanzstratege des Landes deckt seinen Rückzug, indem er mitteilt, dass ein Wiederaufruf der Reichsfinanzreform erst dann sinnvoll ist, wenn die Konvertierung der Reichsanleihen gewährleistet ist. "Wir sind für eine gründliche Zinsherabsetzung der Reichs- und preußischen Anleihen. Wird diese in unserem Sinne durchgeführt, dann haben die Posadowskyschen Pläne vollends jede Berechtigung verloren." (Vorwärts 24.08.1995) Das Problem der Matrikularumlagen bleibt ungelöst. "Wir sehen darin keinen Schutz gegen Übergriffe der Reichsfinanzverwaltung und der einzelnen Ressorts", hebt Eduard Bernstein am 15. Mai 1906 im Reichstag hervor. "Wir sehen im Gegenteil darin eine Aufmunterung der einzelnen Ressorts, mehr auszugeben (....), weil die einzelstaatlichen Vertretungen bei ihr vor jeder Verantwortung geschützt sind." Wenn die Matrikularumlagen gebunden, und die Ausgaben steigen, dann bleibt eben weiter gar nichts übrig, als entweder neue Schulden zu machen oder wieder eine Vermehrung der indirekten Abgaben vorzunehmen. "Auf keines von beiden können wir uns einlassen," schlussfolgert Eduard Bernstein, "wir halten nach wie vor daran fest - und um so mehr werden wir uns jeder Nachgiebigkeit mit Bezug auf die Matrikularumlagen entgegenstemmen -, daß eine
Auf eine einheitliche Reichsabgabenordnung und Abschaffung der Matrikularbeiträge wartete das deutsche Finanzsystem bis zur Erzbergersche Finanz- und Steuerreform 1919/20. Trotz der Widrigkeiten um das Finanzreformgesetz bescheinigt ihm Eugen Richter am 13. Dezember 1897, ein kritischer Parlamentskollege von der Freisinnigen Volkspartei (FVp), im Reichstag rückblickend auf seine Tätigkeit als Staatssekretär des Reichsschatzamtes, dass durchaus der Vorsatz zu erkennen, die Verwaltung zu vereinfachen, möglichst viel Klarheit und Durchsichtigkeit zu erreichen. Das war keine Selbstverständlichkeit, wies doch die Etatplanung in den letzten Jahren dazu gegenläufige Tendenzen auf. Als Posadowsky 1897 die Geschäfte im Reichsschatzamt niederlegt, verzeichnete der Staat einundzweidrittel Milliarden Mark Schulden. Vierzehn Jahre später waren sie bereits auf über fünf Milliarden Mark angewachsen. (Posa RT 16.2.1912, 81)
Umsturzgesetz zurück "Die Sozialdemokratie
hat eben ein wahres Schweineglück in der Politik, Neben dem Finanzreformgesetz, welches scheiterte, trieb die Regierung die Umsturzvorlage voran.
Am 17. Dezember 1894 liegt dem Reichstag der Entwurf eines Gesetzes, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse vor. Ihren "wahren Zweck" enthüllt 1893 Der Wahre Jacob im Subtext am unteren Rand der Grafik:
Auf "Umsturz" steht eine Strafe von fünf Jahre Zuchthaus. Undemokratisch war vor allem die damit einhergehende gesetzlich gestützte Willkür, die ein gewaltiges Explorations- und Tätigkeitsfeld erhielt. Nach heftigen ideologischen Kämpfen, lehnt der Reichstag die Vorlage am 11. Mai 1895 in zweiter Lesung ab. Nun war zu befürchten, dass ein neues Sozialistengesetz aufgelegt wird. Doch ein Teil der bürgerlichen Politiker erkannten durchaus, dass dies Kontraproduktiv wirken könnte. Zu ihnen gehörte Adolf Gröber (1854-1919). Er tadelte in der abschließenden Debatte die Scharfmacher, was damals ein eingeübter und gut definierter politischer Begriff war. Gemeint waren hier der preußische Justizminister Karl Heinrich Schönstedt (1833-1924) und der Preuße Ernst von Köller (1841-1928). Der volkstümliche Zentrumabgeordnete aus Württemberg beklagte ihr höchst ungeschicktes und ungehobeltes Auftreten. "Noch ein paar solche Reden," sagte Adolf Gröber unter viel Zuspruch im Saal, "und der Triumph der Sozialdemokratie ist fertig." "Es ist indeß noch nicht aller Tage Abend", warnt der Vorwärts (Berlin) vor den umgestürzten Umstürzler!. "Die Junker, die Pfaffen und Geldsack-Gesellschaft, von der die verunglückte Umsturz-Kampagne veranlasst ward, muß auf anderem Wege zum Ziele zu kommen versuchen."
Johannes von Miquel und Graf von Posadowsky zurück
Der Wahre Jakob präsentiert zur Grand pas du Finanzreform auf der Titelseite der 94´er Dezember-Ausgabe das Große Eröffnungs-Ballet. Während Backstage eine schmucke Tanzgruppe aufpoppt, jongliert Staatssekretär Posadowsky Temperamentvoll mit der Tabak-, Bier-, Schnaps- und Weinsteuer. "Miquel", flüstert der Souffleur. Die Kostüme der Damen tragen die Namen der Länder Baiern, Württemberg, Preussen, achsen, spielen also auf die Misere der Matrikularbeiträge an. Ihre Körpersprache deutet darauf hin, als ob sie ihre Drehungen nicht sobald aufführen wollten. Großes Eröffnungs-Ballet. Der Wahre Jacob. Jahrgang 11. Heft 218, Titelblatt. Stuttgart, den 1. Dezember 1894, Ausschnitt
Am unteren Rand der Karikatur "Grand pas du Finanzreform" von der Titelseite der 94´er Dezember-Ausgabe Der Wahre Jakob, flüstert der Souffleur: "M i q u e l". Es war die Empfehlung eines Nationalliberalen der sich die Reichseinheit, den inneren Frieden und die soziale Stabilität ebenso unter Wilhelm II. unter einem NationalKaisertum vorstellen konnten. Am 6. März 1890, also vierzehn Tage vor dem Abgang Bismarcks, stellte er sich auf die Seite des Kaisers und gegen die vom Kanzler favorisierte Konfrontationsstellung. (Mommsen 2002, 44) Wozu der preußische Finanzminister den Staatssekretär des Reichsschatzamtes verhelfen wollen? Vielleicht ist es das Codewort für den Auftakt einer umfassenden Finanz- und Steuerreform? Im September 1893 fand hierzu in Berlin eine mehrtägige Steuerreformkonferenz mit den Verantwortlichen statt. Man hörte, dass sie nicht so recht vorwärtskommt, weil die Minister Miquel und Posadowsky, abweichende Ideen vertreten. (NFP 22.9.1893) "Miquel" könnte ebenso das Signal für die Einführung einer Reichseinkommensteuer und Reichserbschaftssteuer sein. Zwar lehnte er als preußischer Finanzminister die Reichseinkommensteuer ab, unterbreitet nach Auskunft der Jenaer Volkszeitung vom 17. Juni 1893 den Vorschlag für die Einführung einer Reichserbschaftssteuer. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wurde sie nicht verwirklicht. Als Ersatz beschliesst im Dezember 1893 der Reichstag das Gesetz zur Änderung der Reichsstempelabgabe, vorgelegt vom bayerischen Finanzminister Doktor Freiherr von Riedel und nach Verteidigung durch Staatssekretär Doktor Graf Posadowsky. De geeigneteste Weg zur Ergänzung der Einnahmen des Haushalts, besteht in der Einführung beweglicher Steuern in Form von Zuschlägen zu den Verbrauchsabgaben, propagiert Johannes von Miquel. "Auf die Seufzer der Millionen deutschen Arbeiter, die nicht wissen, wie sie die geringste Mehrausgabe erschwingen sollen, pfeift der Reichs-Finanzkünstler." (Vo 16.11.1893)
1891/93 führte er in Preußen, was für das deutsche Finanzsystem prägend, das System der Einkommen-, Gewerbe- und Vermögensteuer ein. Das Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 mit den progressiven Steuertarifen, posaunt Miquel hinaus, sei d i e neue Steuergerechtigkeit. Voraus ging das Gesetz über die Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer vom 25. Mai 1873. Die in Preußen 1811 eingeführte Kopfsteuer, die sich zur Klassen- und dann zur Einkommensteuer wandelt. Die weniger bemittelten sozialen Klassen, so lobt der Finanzminister das neue Gesetz, werden durch die abgestufte Einkommen- und Erbschaftssteuer von Steuerbürden entlastet. Der Einkommensteuer-Satz liegt für Jahreseinkommen von 900 bis 1 050 Mark zwischen 0,62 Prozent und für Einkommen über 10 000 Mark bei zu vier Prozent. Durch das preußische Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 erhalten die Gemeinden erstmals Grund- und Gebäudesteuer. Eine zukunftsweisende Session des Reichstages beginnt am 16. November 1893, wo darüber entschieden, welche Lasten den bereits schwer an den indirekten Steuern tragenden Schichten der Bevölkerung aufgebürdet werden können. 97 Prozent der Steuerpflichtigen, legt Miquel den Abgeordneten zur Beratung des Etat- und Anleihegesetz am 28. November 1893 vor dem Reichstag dar, verfügen in Preußen über ein Einkommen von 900 bis 8500 Mark, nur drei Prozent gelten als Reich. Geschickt überspielte er in seiner Steuerpropaganda, wo die Progression erst richtig einsetzen musste, aber völlig fehlte, nämlich nach oben. "Es wurmt den alten Kommunisten [Miquel] gewissermaßen heute noch," lästert im November 1893 der Vorwärts aus Berlin, "dass mit dem ungerechten aller Steuersysteme in Preußen-Deutschland nicht schon viel, viel früher begonnen worden ist." Welche Rolle spielt Johannes von Miquel im politischen Leben von Posadowsky? In der Öffentlichkeit erscheint ihr Verhältnis in der Sammlungsbewegung (1894) mit wechselnden, oftmals irritierenden Aussagen, etwa nach der Art, wie damals am 17. August 1893 der "Vorwärts" (Berlin) mitteilt:
Angeblich erwarb er damit den Befähigungsnachweis als Staatssekretär. Ähnlich aufgequollen porträtiert ihre Beziehung am 12. Juni 1898 der "Kladderadatsch" auf Seite 99 im Gedicht "Der gelehrige Schüler":
Oftmals hinterlassen die öffentlichen Spiegelungen zum Verhältnis von Miquel und Posadowsly mehr Unklarheiten als Einsichten. Speziell ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind nicht klar. Miquel stellt die außen- und innenpolitische Sicherung des Landes über den Ausbau des Verfassungsstaates. Das schließt den Erlass von Repressivgesetzen gegen die Sozialdemokratie ein und orientiert auf eine allgemeine Wahlrechtsreform nach preußischem Vorbild. Es ist das Konzept der Isolation des Gegners und läuft der Strategie von Posadowsky, die sozialdemokratische Bewegung und Partei verfassungsrechtlich in das System einzubinden, entgegen. Über Johnnes von Miquel kursieren viele Geschichten. Von Karl Marx angehalten, soll er in seinen Jugendjahren Bauernaufstände organisieren. "Er hat später einmal mir gegenüber erklärt," erinnert sich am 14. Februar 1906 (1266) August Bebel vor dem Reichstag, dass sei "eine Jugendeselei gewesen, und die kann wohl verziehen werden. Aber zehn, zwölf Jahre später war er doch ein gefestigter Mann, war er sogar einer der Führer des Nationalvereins. Es war 1863, als in Preußen der Verfassungskampf mit der gesamten Linken aufs heftigste entbrannt und der damalige Herr v. Bismarck ihr Gegner war. Damals erklärte Herr Miquel in einer Zusammenkunft der Führer des Nationalvereins in Leipzig: nehmen die Hohenzollern nicht Vernunft an, so werden wir ihnen das Schicksal der Bourbonen bereiten, indem wir ihnen die Arbeiter auf den Hals hetzen." Augenscheinlich war Miquel ein Mann mit Ambitionen, der eine Diagonal-Karriere par excellence hinlegte, also den Auftstieg vom Mitglied des Bundes der Kommunisten bis 1890 zur Ernennung zum preußischen Finanzminister durch Reichskanzler Leo von Caprivi.
Kanzler wird er nicht. Als Bernhard von Bülow in dieses Amt berufen, enthüllt die Leipziger Volkszeitung seine Gefühle: "Für den ehemaligen Kommunisten und jetzigen Agrarier Johannes von Miquel ist die Ernennung eines verhältnismäßig jungen Mannes [Bülow] zum Staatskanzler eine bittere Enttäuschung." (LVZ 11.10.1900) Eugen Richter (1899) missfiel die Art und Weise wie Johannes von Miquel die Zeiten der älteren Herren requirierte, "wo man in Deutschland zu Neujahr ängstlich nach Paris blickte, um zu erfahren, was Kaiser Napoleon in Bezug auf Europa vorhätte". Schneller als gedacht, könnten, so stellte er es dar, diese Zeiten wiederkommen, wenn nicht die beabsichtige Flottenvermehrung stattfindet. Steckt hinter der Angst vor McKinley oder Königin Victoria`d Thronrede wirklich Die Sorge um den deutschen Export? Oder die Sicherheit um die deutschen Handeltreibenden? "Der Wahre Jakob" zweifelt 1901 mit den Vokabeln des Bildes daran, ob "Miquel-Moor" das Großbürgertum hinter der Welt- und Flottenhochrüstungspolitik versammeln kann. Bei seinem stürmischen Eintritt in die Versammlung ruft er:
Wer Bauernaufstände kann, kann auch Adolf Stöcker (Antisemiten, CSP), Gutsbesitzer Karl Freiherr von Gamp-Massaunen, Hermann Paasche, Diederich Hahn, Richard Roesicke, Wilhelm von Kardorff, Gründer des Centralverband deutscher Industrieller oder Graf Hans Wilhelm Alexander von Kanitz-Pondangen (DKP) in einer Sammlungsbewegung hinter sich bringen? Wahrscheinlich nicht, will der Cartoon "Miquel-Moor" sagen. Überdies stehen personelle Fragen der Sammlungsbewegung zur Disposition, als Johannes von Miquel im Mai 1901 den Posten des preußischen Finanzministers verlor, weil er beim Bau des Mittellandkanals sich zusammen mit anderen Konservativen 1899 dazu aufgeschwungen hatte, die Bewilligung der Gelder zu verweigern.
Es übersteigt das politische Vorstellungsvermögen, dass der Staatssekretär des Innern in der Sammlungsbewegung mit den Deutschkonservativen (DKP), Nationaliberalen (NLP) und Freikonservativen (FVp) mitwirkt. Das gefährdete vor allem die Unterstützung des Zentrums in der Sozialgesetzgebung. Jahre hatte man den Reichsfinanzkünstler im Haus am Königsplatz nicht gesehen. Nun schwingt er am 13. Dezember 1899 mit aufgepflanzter Speerspitze eine Rede gegen den Zentrums-Abgeordneten Ernst Lieber (1838-1902). weil er sich erlaubte, Kritik an der Hamburger Kaiser-Rede zu üben. Das war, hielt ihn Johannes von Miquel vor, bisher nicht üblich und verkündet in einem Amtenzug die einzig gültige Wahrheit:
Dann kam Liebers dran. Es herrschte große Ruhe. Er ".... replicirte ruhig aber wirksam und wies nach," schildert das Neue Wiener Journal am nächsten Tag dessen Antwort, "daß Miquel, im Hintergrund der Ereignisse wühlend, die Stellung des Centrums im Reichstag und gegenüber der Krone zu untergraben suchte." Miquel zeigt sich fragil. Will er ihn als einen Mann mit wechselnder Meinung hinstellen? Vielleicht war das der ganze Zweck der Sache. Die Anspielung auf die kommunistische Vergangenheit war ein Angriff auf seine Ehre. Seine Antwort gestaltete zu einer Art "Selbstnachruf" (Vorwärts, Berlin):
Aber ob die alten Geschichten ihre gewünchte Wirkung entfalteten, das ist ungewiss. Und offensichtlich will sich Ernst Lieber darauf nicht verlassen und setzte die Fehleranalyse fort. Er war es empört , "der öffentlich alle politischen Parteien für überlebt erklärte" und der Verabschiedung des Flottengesetzes 1898 mittels des "Deckungsparagraphen" Schwierigkeiten bereitete. Unverantwortlich wie er mittels der Kritik an der Finanz- und Reichspolitik die Reichsverdrossenheit schürte.
Es kommt noch mehr im Reichstag, an diesem 13. Dezember 1899 kommt, zur Sprache. Ernst Lieber (RT 13.12.1899, 3334) wirft Miquel die
vor. Ihm verübelt er die Äußerung: "Das Zentrum ist am Falle der Kanalvorlage schuld", worauf er der politischen Freundschaft eine Revision unterzog. "Auffallend war," registriert das Neue Wiener Journal, "das Fürst Hohenlohe und Staatssekretär Posadowsky Miquel sichtlich ignorirten." "Ja, Posadowsky unterließ es auch, nur mit einem Worte in seiner Rede den Finanzminister, der sich unterdessen zurückgezogen hatte, zu vertheidigen." "Moralisch ist Miquels Stellung nicht mehr haltbar", urteilt am Tag darauf der Vorwärts (Berlin).
Revirement zurück "Philipp Graf zu Eulenburg - des Kaisers bester Freund" von John C. G. Röhl (2002, 55ff.) bietet eine gute Grundlage, um den Einbau, von Graf von Posadowsky in die Reichsleitung politisch zu verstehen. Auch wenn das Exzerpt hinter dem Original zurückbleibt, ist es sinnvoll den Versuch zu unternehmen, die Personalentwicklung auf Reichsebene in ihren Konturen und Vakanzen, mit den Konsequenzen und Intrigen nachzuzeichnen.
Philipp Graf zu Eulenburg (1847-1921) legt am 20. März 1894 eine Denkschrift zur Umgestaltung der deutschen Regierung vor. Danach soll Adolf Marschall von Bieberstein (1842-1912), seit 1890 Staatssekretär des Auswärtigen, nach seinem Zusammenstoß mit Kuno Moltke und August von Eulenburg anlässlich des Bismarck-Besuchs in Berlin Ende Januar 1894 gehen. Zum neuen Reichskanzler avanciert Botho zu Eulenburg (1831-1912), seit 1893 preußischer Innenminister. Nach einem erneuten Zusammenstoß zwischen Marschall und der kaiserlichen Umgebung im Februar 1895, fordert Philipp Eulenburg die Entlassung sowohl von Marschall wie von Julius Holstein (1837-1909), der in England einen Bündnispartner sah. Johannes von Miquel darf als "Bindeglied zwischen der Regierung und den rabiat gewordenen Agrariern" bleiben. Bernhard von Bülow soll in Vorbereitung auf die Kanzlerschaft das Auswärtige übernehmen. Caprivi`s Kanzlerschaft wackelt wegen mangelnder Führung im Inneren und den Intrigen der junkerlichen Kreise. Ihn wird Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst am 29. Oktober 1894 ablösen. Philipp Eulenburg bestürzt wie das preußische Staatsministerium die "Allüren eines Ministeriums parlamentarischer Staaten" annimmt. Als Vertrauter des deutschen Kaisers empfiehlt er die Rädelsführer der "Ministerrevolte" Karl Heinrich Boetticher (1833-1907), Adolf Marschall von Biberstein (1842-1912) und Kriegsminister Paul Bronsart von Schellendorf (1832-1891), zum geeigneten Zeitpunkt zu entfernen. Schon im kommenden Frühjahr soll Heinrich von Boetticher, 1880 bis Juli 1897 Staatssekretär Reichsamt des Innern und Unterstützer der Caprivischen Handelsverträge, durch Posadowsky und Adolf Marschall durch Bernhard von Bülow ersetzt werden. Boetticher und Marschall waren bei den Agrariern verhasst, während Johannes von Miquel und Graf von Posadowsky ihr Vertrauen besaßen (Fesser 1991, 44). Die scheinbar vollkommenen Pläne zur Umgestaltung der Regierung mussten im März 1896 durch die "Verschwörung" Holsteins, Marschalls und Bronsarts über den Haufen geworfen werden, weil sie die populäre Militärstrafprozeßordnung benutzen wollten, um Hohenlohe zum solidarischen Auftreten mit dem Staatsministerium gegen den Kaiser zu zwingen. Die endgültige Überwindung der Regierungskrise blieb offen. (Alles Röhl 2002, 55-59) "Bülow tritt in Raten die Nachfolge von Marschall an. Am 26. Juni 1897 wurde er zum stellvertretenden Staatsekretär des Auswärtigen Amtes ernannt, am 20. Oktober zum Staatssekretär und Preußischen Staatsminister." (Fesser 1991, 41) Vor dem Reichstag spricht er zum ersten Mal am 6. Dezember 1896. Die personelle Erneuerung
ist ein Triumph über die Politik des Ausgleichs und der Agrarzölle
des Vorgängers. Sie stärkt das persönliche Regiment Wilhelm
II..
Staatssekretär des Inneren zurück [Ernennung zurück] Seine Majestät der Kaiser geruhte mittels Allerhöchster Ordres vom heutigen Tage, dem Staatssekretär des Innern, Staatsminister vr. von Boetticher die nachgesuchte Dienstentlassung zu ertheilen und denselben von der allgemeinen Stellvertretung des Reichskanzlers zu entbinden, sowie den bisherigen Staatssekretär des Reichsschatzamts vr. Grafen von Posadowsky-Wehner zum Staatssekretär des Innern und den Generallieutenant z. D. von Podbielski zum Staatssekretär des Reichspostamts zu ernennen (Reichstag 20.11.1897). [Die Institution zurück] "Das Reichsamt des Innern hatte seit 1879 immer mehr Aufgaben an sich gezogen: Im Frühjahr 1894 war von der I. Abteilung eine neue III. Abteilung für wirtschaftliche Fragen abgezweigt worden, die nach sechs Jahren wiederum geteilt wurde, so dass seit Mai 1900 vier Abteilungen bestanden. Die Anzahl der Direktoren stieg von einem im Jahr 1889/92 auf drei im Jahr 1900, die der Vortragenden Räte von zehn auf sechzehn." Für die sozialpolitische Materie war die "II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten" zuständig. 1891 wurde sie im "Handbuch für das Deutsche Reich" folgendermassen beschrieben: "Der zweiten Abteilung liegt die Bearbeitung derjenigen Angelegenheiten ob, welche sich auf die Fürsorge für die arbeitenden Klassen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung, Arbeiterschutz, Sonntagsruhe etc.) beziehen. Dieselbe bearbeitet außerdem die gewerblichen Angelegenheiten, einschließlich des Versicherungswesens, die Freizügigkeitssachen und das Armenwesen." "Das Reichsamt des Inneren wurde wieder Vorreiter der sozialpolitischen Gesetzgebung." (Tennstedt 2021, 49f.) [Nächste Aufgaben zurück] Die bevorstehenden Wahlen zum 10. Deutschen Reichstag am 16. Juni 1898 lassen ihre erste Aufgaben fallen. Ein hartes Ringen, ist um die Festlegung der Friedenspräsensstärke des Heeres zu erwarten. Bei der Ausrichtung der Handelspolitik sind die Interessen von Industrie, Agrarierer, Handels- und Bankkapital auzutarieren. Im 13. Dezember 1897 (176) verspricht Posadowsky vor dem Reichstag, "dass Wohl der arbeitenden Klasse weiter zu fördern", "soweit es sich um berechtigte Forderungen für die sittliche und körperliche Gesundheit der Arbeiter handelt." Nicht einfach einzulösen. Denn die Phase der wirtschaftlichen Prosperität ist zu Ende, erklärt am 10. Dezember 1897 August Bebel im Reichstag unmissverständlich . Es folgt die Periode der Krise und die Entlassung von Arbeitern, was weitreichende Folgen für den Staat hat. Das Reichsbudget baut sich zu neun Zehntel auf den Einnahmen aus Konsumartikeln, aus den indirekten Steuern, wie Branntwein- (119 Millionen), Zucker- (90 Millionen) und Salzsteuer (48 Millionen). Hinzukommen die Einnahmen aus dem Getreide- (142 Millionen), Petroleum- (59 Millionen) und Kaffeezoll (52 Millionen Mark - alles 1895). Es liegt auf der Hand, dass bei einem allgemein schlechteren Geschäftsgang, die Konsumfähigkeit der Massen abnimmt. Aber die besitzenden Klassen greifen, um den Patriotismus zu nähren, ungern in die eigenen Beutel.
Seitens der Ritterguts-, Grundbesitzer und Führer landwirtschaftlicher Unternehmen bestehen klare Erwartungen an die Agrarpolitik. Mit Nachdruck artikuliert sie im Dezember 1897 (152) der Deutschkonservative Reichstagsabgeordnete Karl von Leipziger (1848-1924): "Wir haben ja die Hoffnung, daß, nachdem der jetzige Herr Staatssekretär des Innern als Schatzsekretär uns bereits in der vorigen Session gesagt hat, daß er neue autonome Maximal- und Minimaltarife ausarbeiten lasse, die spezialisirter sein sollen als früher, .... - daß man wohl aus diesen .. schließen dürfe, daß der Wind günstiger für die Landwirthschaft aus den höheren Regionen der Reichsregierung zu uns herabweht, und daß man bei den nächsten Handelsverträgen eine Vernachlässigung der Landwirthschaft, wie sie bei den letzten Handelsverträgen stattgefunden hat, nicht wieder eintreten läßt." Man ist optimistisch, daß er der richtige Mann ist, um all diese Aufgaben zu stemmen. "Die politischen und wirthschaftlichen Anschauungen des Grafen Posadowsky-Wehner passen in den allerneuesten Kurs durchaus hinein," schreibt in sarkastischer Tonlage im Sommer 1897 die Berliner Zeitung. "War der Graf bisher schon an aller reaktionären Regierungspolitik schaffend betheiligt, hat er seinen "guten Willen", dem Volke mehr Steuern auzuhelfen, mehrfach bewährt." 1901 beginnen die Arbeiten am Zollgesetz und zum Zolltarif. Fragen der Reichsbank-Privilegien sind zu klären. Den Staatshaushalt belasten Ausgaben für die Flottenrüstung. Die Einführung der Schaumweinsteuer und die Erhöhung der Reichsstempelabgaben reichen zur Deckung des Finanzbedarfs nicht aus. Die Schuldenlast des Staates steigt (Eheberg 2010, 13) und die Steuererhöhungs-Debatte entbrennt von Neuem. Posadowsky wirft auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress, der vom 1. bis 3. Juni 1909 in Heilbronn tagt: Der Staat muss endlich den Zwiespalt zwischen Einnahmen und Ausgaben schließen. Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Adolph Wagner (1835-1917) und Ernst Hasse (1835-1917), ein Nationalliberaler (NLP) der den Wahlkreis Leipzig Stadt im Reichstag vertritt, arbeiten daran. Sie denken sich bereits neue Steuereinnahmequellen aus: Vielleicht könnten sich die Deutschen beim Genuß von Bier und Tabak für die Flottenrüstung etwas abzwacken? Über diesen Weg sich Reserven zu erschließen, mokiert sich am 14. Dezember 1899 (3363) im Reichstag Eugen Richter von der Fortschrittlichen Volkspartei (FVp). Zunächst wird aber Posadowsky´s geheimes Rundschreiben vom 11. Dezember 1897 zum Streikrecht und der Koalitionsfreiheit an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten hohe Wellen schlagen. [Reformen zurück] Im Ergebnis der Arbeitsschutz- und Sozialgesetzgebung entstanden, unter Existenz des Koalitionsrechts und gewerkschaftlicher Vereinigungen, die Arbeiterversicherung - Krankenkasse, Invaliditäts- und Unfallschutz - , der Arbeitsschutz und die Rechtsprechung der Gewerbegerichte nebst Einigungsamt. Posadowsky wird den deutschen Weg der Sozialpolitik fortsetzen. Im Zuge weiterer Planungen und Initiativen erfolgt der weitere Ausbau der staatlichen Sozialgesetzgebung. "Mit seinem neuen Kurs im Reichsamt des Inneren und der Unterstützung von Seiten des Zentrums", so resümiert Joachim Bahlcke über seine Tätigkeit in den ersten Jahren, "begann Posadowsky eine Reihe durchgreifender sozialpolitischer Reformen." Zu den bedeutenden wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen zählen (siehe Gladen 1974, u.a. 85f.):
Die SPD trägt von 1900 bis 1903 die Reformen zur Sozialversicherung, Regelung der Arbeitszeit, Verbot der Kinderarbeit und Verbesserung des Mutterschutzes mit. Mittlerweile verfügt Deutschland über ein umfangreiches Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebungs-Werk. Posadowsky hält am 13. Februar 1897 (173) den Sozialdemokraten im Reichstag vor:
Natürlich gab es, etwa in der Schweiz und Österreich, bereits vor der Berlepschen Arbeiterschutzgesetzgebung entsprechende sozialgesetzgebende Initiativen. Selbst Russland kannte den gesetzlichen Arbeitsschutz für Arbeiter. Arthur Raffalovich (1854-1921) referierte im Oktober 1897 in Brüssel auf dem Internationalen Kongress für Arbeitergesetzgebung über die Arbeiterschutzgesetze für Frauen und Kinder in Russland. Zugegen war ein auserlesenes wissenschaftliches Publikum, besetzt mit Gustav Schmoller, von Berlepsch, Werner Sombart und vielen anderen namhaften Akteuren.
Ist er ein Bremser? zurück
Über das Reformtempo kommt Unzufriedenheit auf. Noch 1932 flirrt im Redaktionsgedächtnis der Frankfurter Zeitung umher, dass der neue Staatssekretär damals zunächst einer temporeichen Fortführung der Sozialpolitik und Erweiterung des Koalitionsrechts kühl gegenüberstand. Posadowsky Berufung erscheint sowohl in der Einschätzung des Znaimer Wochenblatts von 1897 wie in der von Carsten Schmidt aus dem Jahr 2007 im faden Licht des Bremsers. Am Tempo der Sozialgesetzgebung drehten noch andere mit. Doktor Friedrich Naumann (1860-1919) wirft am 7. April 1907 den Parteien im Reichstag die "Unfruchtbarmachung der deutschen Sozialgesetzgebung" vor. Zu diesem Zeitpunkt bereitete man den Abgang von Graf von Posadowsky aus seinen Amt vor. Nicht ihn nimmt der Liberale ins Visier, sondern den Bundesrat. Obwohl für eine Reihe sozialpolitischen Forderungen im Reichstag eine Majorität vorhanden, verschleppte er immer mal wieder die Entscheidung. Zur Lösung des Problems schlägt Naumann die Einrichtung eines "Industrieparlamentarismus" vor. Posadowsky sah darin ein bemerkenswertes "philosophisches Programm". Seitens der SPD fiel die Reaktion weniger positiv aus, erkannte sie doch darin eher den Versuch, die Verhältnisse im bürgerlichen Staat weiter zu idealisieren. Der Referent, kommentiert der "Vorwärts" (Berlin), schien nicht zu merken, dass er eine Kritik an den bürgerlichen Parteien vortrug, die sich in Mehrheit vor dem Bundesrat duckte, und sich diese Verschleppung gefallen lassen, weil sie unter den Einfluss der Großindustrie und des Kapitalismus stehen. Eine andere Ursache für die amtliche Geschwindigkeitsbegrenzung der Sozialpolitik ortet 1900 (134) der SPD-Reichstagsabgeordneter Ignaz Auer (1846-1907): "Es ist doch kein Geheimnis, daß selbst die Regierung sozialpolitische Vorlagen, die sie für nothwendig erachtete - ich erinnere hier nur an die Unfallnovelle von 1896/97 - zurückgezogen und dem Reichstag nicht mehr vorgelegt hat, weil der Zentralverband [CdI] Einspruch erhob, weil man dort erklärte:
Außerdem können Entscheidungen, die klare Präferenzen setzen, Bremsspuren hinterlassen.
So wünschenswert die Witwen- und Waisenversicherung ist, laut Berufsstatistik von 14. Juni 1895 können immerhin 7,7 Millionen männliche Arbeitskräfte einen Anspruch geltend machen. Vorrang sollte die Reform des Krankenversicherungsgesetzes, die Verlängerung von 13 auf 26 Wochen haben, weil damit eine für die Arbeiterfamilien unheilvolle Lücke zwischen der Beendigung der Krankenversicherung und dem Beginn der Invalidenrente geschlossen werden kann. "Das ist die verhängnisvolle Zeit .," "wo in der Tat einer Arbeiterfamilie, die vollkommen subsistenzlos wird, verelenden kann und vielleicht ihr bisschen Hausrat verschleudern und die Ersparnisse, die sie gesammelt hat, aufzehren muß, um überhaupt leben zu können." Es ist eben "eine einfache Frage der finanziellen Leistungsfähigkeit", erklärt am 12. Januar 1900 der Staatssekretär des Inneren vor dem Reichstag, weshalb zunächst die Reform der drei großen Versicherungsgesetze abgeschlossen werden soll. Am 13. Dezember 1897 antwortete Posadowsky im Reichstag auf den Vorwurf des "Bremsers": "Einen berechtigten Grund zur Unzufriedenheit mit unserer inneren Politik glaubt man darin gefunden zu haben, daß unsere soziale Gesetzgebung ziemlich stillstände. Wie man diesen Vorwurf erheben kann gegenüber dem Inhalt der Thronrede, das ist mir unverständlich. (Sehr gut! rechts.) Das können Sie doch nicht geglaubt haben, daß das deutsche Volk wirthschaftlich stark genug sei und genug Elemente der Selbstverwaltung in solchem Maße besäße, um in diesem Tempo auf dem Gebiete der Sozialgesetzgebung fortzuschreiten, wie das in der Vergangenheit gewesen ist, als wir die drei großen sozialen Institutionen geschaffen haben. (Sehr richtig! rechts.) Es mußte darnach ein gewisser Zustand der Ruhe eintreten, und wir müssen uns jetzt zunächst damit beschäftigen, diese sozialen Gesetze, die noch viele und, wie ich anerkenne, schwere Lücken haben, sachlich auszubauen, das große Gebäude vor allen Dingen wohnlich, hell, geräumig und durchsichtig zu gestalten. Ein solches Gesetz ist aber angekündigt worden, und über dessen Fassung wird zur Zeit beraten." "Wir sollten uns überhaupt im Reichstag beschränken, nicht fortgesetzt neue sozialpolitische Gesetze geben, sondern die vorhandenen Gesetze weiter ausbauen und in ihrem Wirkungskreis ausdehnen. Das ist eine Riesenarbeit." (Posa RT, Vorwärts 14.12.1897)
Was konnte er entscheiden? zurück
Er erkannte, "dass staatliche Sozialpolitik in eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik einmünden müsse, die den Arbeitern Freiheit und Möglichkeit zur Selbsthilfe gab." Das erforderte die Aufhebung des politisch-diskriminierenden Zensuswahlrechts mit anachronistischer Wahlkreiseinteilung und die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit. An die Lösung der Arbeiterfrage nicht nur sozialpolitisch heranzugehen, betont Albin Gladen (1974), sondern sie als Verfassungsfrage anzuheben, das wollte Posadowsky nicht verantworten. Nur, wollte oder k o n n t e er nicht? Dies führt endlich zu der Frage: Über welche Handlungsspielräume verfügte der Staatssekretär a) innerhalb der institutionellen und b) in den Grenzen der kaiserlich-herrschaftlichen Subordinationsverhältnisse? Die Zahl der dem Reichsamt des Innern unterstellten Institutionen war groß und es erschien vielen so, als wenn sie ins unermeßliche wächst. Sie "alle zu leiten, im Auge zu behalten, zu kontrollieren und zu entwickeln geht über die Arbeitskraft eines einzelnen, sogar des tüchtigsten Mannes weit hinaus." Diese Leistung "ist nur unter völligem Verzicht auf alles Behagen, auf alle Annehmlichkeiten des Lebens möglich." (DG 1906, 464) Gelegentlich erhob die Öffentlichkeit gegen das Reichsamt des Innern den Bürokratie-Vorwurf. Seine Größe und den damit angeblich verbundenen Verlust des unmittelbaren Zusammenhangs, waren dazu durchaus angetan. Indes konnte man ihn in dieser Form mit demselben Recht gegen fast jede Behörde wenden. Ausgeglichen wurde dieser Nachteil durch zahlreiche Enqueten, die jahrein jahraus über alle möglichen Fragen und Bevölkerungsgruppen verfasst und das Amt so in unmittelbare Berührung mit den betreffenden Kreisen setzen. Das erbrachte eine Fülle von Kenntnissen aus dem unmittelbaren praktischen Leben und bereicherte die Tätigkeit des Amtes. In dieser Hinsicht war es also den anderen Ämtern und Ressorts gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen. (Vgl. DG 1906, 463).
Das Reichsamt des Inneren ist nicht wie das preußische Ministerium des Inneren eine verwaltende Behörde, sondern ein Ressort für die Vorbereitung von Gesetzen und für die Überwachung ihrer Ausführung. Der Staatssekretär dieses Amtes hat sowohl in dieser Eigenschaft wie als Mitglied des preußischen Staatsministeriums selbstverständlich zu allen ernsten politischen Fragen, die Reich und Staat bewegen, Stellung zu nehmen. Da alle politischen Vorlagen, ehe sie in den Bundesrat kommen, zunächst das preußische Staatsministerium passieren, so ist das Staatssekretariat des Reichsamtes des Innern sehr wohl in der Lage, sich zu jedem in seinem Ressort ausgearbeiteten politischen oder wichtigen sozialpolitischen Gesetzesentwurf im preußischen Staatsministerium auszusprechen. Allerdings kann die politische Bekämpfung der Sozialdemokratie nur eine sekundäre, nebenamtliche Aufgabe sein. (Vgl. DG 1906, 462) Wenngleich sich Staatssekretär Posadowsky "mit der politischen Tätigkeit, der Organisationen der Sozialdemokratie, ihren Vereinen, ihren Versammlungen und ihrer Presse nicht zu beschäftigen hat, weil das nicht zu seinem Ressort gehört, und weil er ihr gegenüber auch keinerlei administrative Massnahmen treffen kann, so hat er dafür einen um so genauern Einblick in die vielen Wirkungskreise des Ressorts, in die Stellung der Sozialdemokratie zu den sozialpolitischen Massnahmen des Reiches und deren Wirkung auf die Arbeiterkreise." (DG 1906, 462) Ein großer Teil der Arbeit im Reichsamt des Innern galt immer dem Reichstag. Der Staatssekretär und ein nicht geringer Teil seiner Räte waren dazu verurteilt, Woche für Woche in Kommissions- und Plenarsitzungen des Reichstages zuzubringen. (DG 1906, 462) Hinzu kam, "In der persönlichen Vertretung seines Ressorts vor dem Reichstage, sogar bis in alle Kleinigkeiten und in der Verantwortung der unglaublichsten Fragen, geht er fast zu weit."(DG 1906, 462) Über die genaue Aufgabenverteilung zwischen dem Staatssekretär und dem Reichskanzler, kritisiert Posadowsky 1899, bestanden bei den Reichstagsabgeordneten öfters Unklarheiten. Der Reichskanzler verantwortet die allgemeine Reichspolitik und formuliert ihre Führungslinien. Graf von Posadowsky steht dem Reichstag zunächst als Ressortchef vom Reichsamt des Innern gegenüber. Während der Reichskanzler als preußischer Ministerpräsident auch im Herren- und im Abgeordnetenhaus Fragen der allgemeinen Staatspolitik zu erörtern und demgemäß für deren einheitliche Verhandlung zu sorgen hat. Obwohl preußischer Staatsminister, will man Posadowsky im preußischen Landtag nicht sehen. Parlamentarisch beschränkt sich die Vertretung seines Ressorts auf den Reichstag, das allerdings das umfangreichste, was die Regierung zu vergeben hat. (DG 1906, 462) Sie unterschieden nicht zwischen den Rechten, welche die Reichsverfassung dem Reichskanzler und den verbündeten Regierungen gibt, und der souveränen Verwaltung der Einzelstaaten. (Posa RT 13.12.1899, 3387) Die Satire-Zeitschrift Der Wahre Jacob 1904 karikiert die Personalentwicklung der Reichsführung auf seine Weise und lästert:
An der Spitze der Klinge vom Rasiermesser sitzt der Reichskanzler Bernhard von Bülow und dahinter Posadowsky, der Staatssekretär des Innern. Was lässt das persönliche Regiment von Wilhelm II. zu? Regierung, Beamtenschaft usw waren " . durchsetzt von dem Bestreben, die Gunst, der Allerhöchsten Person für sich zu gewinnen bzw. zu erhalten" (Röhl 2002, 133). ". immer weiter frisst sich die Überzeugung Bahn, die sämtlichen Minister seien nicht selbständige Männer, die nach ihrem guten Glauben handeln, sondern mehr oder weniger Puppen, die blindlings den Winken und Launen ihres kaiserlichen Herren folgen" (W. J. Mommsen 2005, 64). "Die Reichskanzler, die Staatssekretäre der Reichsämter und die preußischen Minister waren praktisch zu Handlangern der Monarchen herabgesunken ....". Das System auf dem Prinzip des "allerhöchsten Vertrauens" und Schmeichelns, musste zur Katastrophe führen (Röhl 2002, 130) und ballte sich 1914 zum Desaster.
.... das kleine, tapfere Volk der Buren (Posadowsky 1900) zurück Der Buren-Krieg, neben den Spanisch-Amerikanischen (1898) und Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905), den Überfall auf China (1898/1901), waren welthistorische Ereignisse. Von Links bis Rechts, bei Akademikern und ArbeiterInnen, Politikern und Arbeiterfunktionären löste er Diskussionen aus. Eine Unmenge von Publikationen erschienen über nationale Selbständigkeit, nationale Souveränität, Recht und Gesetz, gleiche Rechte, internationale kapitalistische Ausbeutung, die Rolle Großbritanniens in der Welt und Deutschlands Verhältnis dazu.
Cecil Rhodes, Ministerpräsident der britischen Kap Kolonie, inszeniert vom 29. Dezember 1895 bis 2. Januar 1896 mit einer Streitmacht Südafrikas den Überfall auf den Transvaal. Leander Starr Jameson (1853-1917) bricht mit achthundert Mann von dem westlich gelegenen Betschuanalande in das Land der Buren. Darauf folgt bald die Meldung, dass die Truppen der Chartered-Company in der Schlacht bei Krügersdorf vollständig geschlagen wurden. Überraschend kam der Überfall nicht. Schon längere Zeit fürchtete man die Begehrlichkeiten, lieferte doch Südafrika 1895 ein Fünftel der Goldförderung der Erde. Der Transvaal war das goldreichste unter allen Gebieten. Der Goldfund 1886 am Witwatersrand (im Transvaal) zog das dividendenhungrige Kapital ins Land, was sich Transvaalregierung mit Konzessionen gut bezahlen ließ. (Bernstein 1896a, 487) Die wirtschaftlichen Interessen von Großbritannien im Burenkrieg-1903) entschlüsselt im Dezember 1899 die Karikatur: "Krieg und Kapitalismus. "Der tollkühne Streich des Dr. Jameson von der Britisch-Südafrikanischen Gesellschaft hat eigenthümliche Wirkung gehabt. Er hat die Franzosenfresser Deutschlands und die wüthendsten Deutschlandfresser Frankreichs einander in die Arme getrieben." Beide, beobachtete Eduard Bernstein am 6. Januar 1896 aus London, ergehen sich in moralischer Empörung über das "Attentat auf das Hausrecht eines freien Volkes". Dabei hatten die "guten Seelen in Paris" noch blutige Hände von den Raubzügen in Siam ud Madagascar. Und die in Deutschland am lautesten über das an ihren ""Stammesbrüdern" im Transvaal verübten Unrecht schreien", würden lieber heute als morgen so und so viele hunderte der eigenen Landsleute heimatslos machen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Entrüstung selber gegenstandslos ist. Fest steht, das die Jamesonsche Truppe nicht einer improvisierten "heldenmüthigen Vertheidigung von Haus und Herd" erlegen ist, "sondern den Schüssen einer mindestens drei- bis vierfachen Überlegenheit, die in wohlverschanzter Position sie erwartet hatte." Eine zweite Idee, schreibt Eduard Bernstein, die geflissentlich propagiert, muss ebenfalls verabschiedet werden, nämlich, dass Buren lediglich ein harmlos, friedliches Hirten- und Bauernvolk seien. "Der Bur ist Großfarmer auf erorberten Grund und Boden, der extensivsten Landbau, und Viehzucht mit den versklavten Ureinwohnern betreibt. Das Recht, die Neger im Sklavenverhältnis zu halten, ist seit über sechzig Jahren das wichtigste Streitobjekt." (Bernstein 1896, 484f.) Großbritannien würde auf eine Ermutigung der Buren duch das Deutsche Reich, in welcher Form auch immer, empfindlich reagieren. Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Bieberstein (1842-1912) fährt unter dem Einfluß von Julius Holstein (1837-1909) einen harten Kurs. Noch bevor die Krise ihren Höhepunkt ereichte, wurde Botschafter Graf Paul von Hatzfeldt (1831-1901) angewiesen, der britischen Regierung zu erklären, das das Deutsche Reich es nicht hinnehmen werde, wenn die Selbständigkeit der Burenrepublik beeinträchtigt. Wenn Jameson nicht sogleich niedergeworfen worden wäre, ständen Deutschland und England am Rande eines Krieges. (Mommsen 2005, 87)
Großbritannien ließ sich von seinen Eroberungsplänen nicht abbringen und entfachte eine scharfe antiburische Kampagne. In Verbindung mit dem der Durchsetzung des Ausländerwahlrechts wurden erneut britische Truppen an die Grenzen der Burenrepubliken entsandt. Daraufhin bot der Präsident der Südafrikanischen Republik Paul Kruger (1825-1904) der britischen Regierung Verhandlungen an und stellte am 9. Oktober 1899 Ultimatum, die Truppen innerhalb von 48 Stunden von den Grenzen zurückzuziehen. Am 11. Oktober 1899 erklärt er Großbritannien den Krieg. August Bebel zitiert in seiner Reichstagsrede am 11. Dezember 1899 (422) die Depesche von Kaiser Wilhelm II., die nach dem Einbruchversuch der Jameson-Truppen in den Transvaal an den Präsidenten der Republik Südafrika Paul Krüger (1882-1902) versandt wurde:
In der konservativen deutschen Presse traf die deutsche Reaktion überwiegend auf Zustimmung. August Bebel charakterisiert am 13. Februar 1899 (939) "die Stellung der deutschen Regierung in der Transvaalfrage" als "durchaus korrekt". Erwartungsgemäß erreicht die öffentliche Diskussion über die Jamesonsche Truppe und Buren den Reichstag. Gleich am Anfang seines Wortbeitrags, also ziemlich drangvoll, nimmt am 17. Dezember 1899 Posadowsky die Debatte zur Buren-Frage auf, nüchtern, weitsichtig, ohne Flausen im Kopf. Es "war doch doch etwas kühn" krisisiert er am Vorredner die Analogie zwischen den Zuständen in Deutschland und "den Verhältnissen des Landes wo das kleine, tapfere Volk der Buren jetzt einen schweren Kampf um seine Selbständigkeit führt (bravo!) ....; ich glaube kaum, daß seine Deduktionen dahin gehen sollten, wir möchten in Deutschland Zustände einführen auf wirtschafthlichen Gebiet (Widerspruch), wie sie im Weideland von Transvaal existiren (Sehr gut! links.) Ich kann deshalb nicht verstehen, warum uns gerade die Buren heute vorgeführt wurden als Vorbild, wie wir unserer Politik im Reiche leiten sollten, um ein ähnliches Volk zu erzeugen wie die Buren." (RT 14.12.1899, 3396) Zustände wie im Transvaal möchte niemand. Doch stellte der Vorredner eine durchaus bewegende Frage, die er aus der Verknüpfung von Buren- und Bauern-Problem in Deutschland ableitete. Darüber wollte aber Posadowsky hier und heute nicht diskutieren, obschon nicht zu leugnen, dass der Opponent eigentlich die berechtigte Befürchtung äußerte, dass die ökonomischen Quellen von der sich Flotte und Armee ernähren und erhalten, durch Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Produktion und des Mittel- und Bauernstand beim Übergang zum Industrieland ernsthaft ramponiert werden könnten.
Weltpolitik und Welthandel zurück Deutschland stürmt auf das Spielfeld der Weltpolitik. Vornan das Großbürgertum in Erwartung neuer Märkte, gefolgt von der Mittelschicht mit ihren nationalen Sehnsüchten von der führenden Nation und dem Geist der Unbesiegbaren als Erbgut der Schlacht von Sedan. Sie, die Weltpolitiker, fürchtet Eugen Richter (RT 1898, 701), kennen keine Grenzen, womit dann die am 6. Februar 1888 im Deutschen Reichstag (673) während der Debatte zur Wehrvorlage durch Otto von Bismarck in einem Anfall von Schwelgerei und Selbstgerechtigkeit feierlich verkündete Reziprozität von militärischer Stärke und deutscher Friedfertigkeit entsorgt wäre. [Flottenrüstung, Exportinteressen und nationale Vertheidigung zurück] Seit 1893/94 badet die deutsche Wirtschaft im Aufschwung. Laut Zolltarif-Gesetzentwurf 1901 erhöhte sich die Roheisenproduktion von 5 433 000 Tonnen im Jahr 1895 auf 8 469 000 Tonnen im Jahr 1900.
Der Aufschwung der Industrieproduktion erfasste auch andere kapitalistische Länder, wie Ungarn, Japan oder Rußland. Deutschland steigerte den Export um etwa ein Zehntel. Die Zahl der Aktiengesellschaften nahmen bis 1900 stark zu. Die Bildung von Monopolen erlaubte die Durchsetzung hoher Preise am Markt. Die Elektroindustrie ud chemische Industrie durchlief eine rasante Entwicklung.
Am
eröffnet der Reichstag die
Bis 1904 sollen Kosten in Höhe von 32 Millionen Mark finanziert werden. In der Eröffnungsrede drängt Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) zur Lösung der Aufgaben auf Maritimen-Gebiet, die in den nächsten Jahren mit der Expansion der überseeischen Handelsinteressen wachsen. Andernfalls stehen Deutschlands Export auf dem Spiel. Dahinter bleibt der Staatssekretär des Innern nicht zurück und begründet, warum die Erfüllung der Aufgaben des Außenhandels die Stärkung der nationalen Vertheidigung verlangt:
Gegen den Vorwurf des Vorredners Eugen Richter, der von "absolutistischen Neigungen" bei der Durchsetzung der Flottenpolitik sprach, erhebt er Einspruch. Posadowsky warnt und droht zugleich: Auf keinen Fall darf sich die Mehrheit der großen "nationalen Aufgabe" der Flottenrüstung widersetzen, weil es dann kein Akt des Absolutismus bedarf, "um den Parlamentarismus zu vernichten". Eben tut er dessen Vorwurf flugs als Irrtum ab, dass die Verstärkung der Marine, "der Anfang einer gewissen Aggressivpolitik" (Posa RT 6.12.1897, 59) sei. Eugen Richter (RT 1.12.1897, 67) von der Freisinnigen Volkspartei sprache am Tag nach Eröffnung der Beratung zum Flottengesetz. Seit 1871 wohnte er allen Verhandlungen des Reichstags im Plenum und in den Kommissionen zur Militäretaterhöhung bei. Er unterstützt den Flottenbau a) zum Schutz der Nord- und Ostsee und b) zur Sicherung der handelspolitischen Interessen im Ausland in Friedenszeiten. Der Militäretat wuchs seit dem Tode von Wilhelm I. von 367 auf 487 Millionen Mark. Heer und Marine erhielten in dieser Zeit 1816 Millionen Mark an einmaligen Ausgaben. "Infolgedessen hat sich die Reichsschuld seitdem verdreifacht, ist von 721 Millionen auf 2151 Millionen gestiegen." Obwohl die Rüstungskosten unverhältnismäßig hoch, hält er ein rein defensives Verhalten (70) für nicht angebracht. Posadowsky wirft Eugen Richter vor, er beachte nicht die Lage der Außenhandeltreibenden, die schwierig und politisch elendig ist. Erhält das Auswärtige Amt von ihnen einen Hilferuf, konnte es manchmal keine Schiffe schicken oder doch nicht in der erforderlichen Zahl. Die Händler erhielten keinen Schutz. Freilich sind Hermann Molkenbuhr (1851-1926) Fälle bekannt, "die ja auch früher erwähnt sind, wo man Forderungen gestellt hat, und die gewünschten Schiffe nicht gekommen sind, aber wo die Reichsregierung ans wohlerwogenen Gründen nicht eingreifen wollte." Das war der Fall "als der Vertreter der Firma Wölber und Brohm, die bei dem Kriege zwischen Frankreich und Dahomey an Dahomey Waffen und Munition lieferte und dafür Sklaven in Zahlung nahm." "Damals hat Deutschland seine Hilfe versagt ...... , und Herr von Marschall sagte: .... wenn man damals den Vertreter der Firma, Herrn Richter, gehängt hätte, hätten wir keinen Finger gerührt." (Molkenbuhr RT 9.12.1897)
In der Reichtagssitzung am 14. Dezember 1899 (3388) erneuert Posadowsky seine Lageeinschätzung zum Außenhandel und schlussfolgert: "Daß unter diesen Verhältnissen der Wunsch bei uns rege ist, daß wir wenigstens auf dem noch verbleibenden Theile des Erdballs eventuell mit gleichen Machtmitteln auftreten, wie England, wie Amerika, daß wir auch mit gleicher Autorität auftreten können, wie unsere handelspolitischen Konkurrenten - das ist, glaube ich, gerechtfertigt, und hierin liegt auch die eigentliche innere Ursache, weshalb im deutschen Volke in so weiten Kreisen sich plötzlich das Verständniß für die weitere Vermehrung unserer Flotte Bahn gebrochen hat. (Sehr richtig! rechts. Widerspruch und Zurufe links.) Das gestehe ich dem Herrn Abgeordneten Richter ohne weiteres zu:
und schließt keine Handelsverträge ab. Jemand, der aber eine starke Waffe in der Hand hat - den behandelt man, wenn es zum Streit kommt, immer mit mehr Achtung wie den Waffenlosen. (Zurufe links.)"
Am
nimmt der Reichstag durch Festellen der einfachen Mehrheit das Flottengesetz an. Es legte den Schiffsbestand der deutschen Flotte, abgesehen von Torpedofahrzeugen, Schulschiffen, Spezialschiffen und Kanonenbooten, auf 1 flottenflaggschiff, 2 Geschwader zu je 8 Linienschiffen, 2 Divisionen zu je 4 Küstenpanzerschiffen, 6 Große Kreuzer, 16 Kleine Kreuzer als Aufklärungsschiffe der heimischen Schlachtflotte, 3 Große Kreuzer und 10 Kleine Kreuzer für den Auslandsdienst fest. Als Material-Reserve werden vorgehalten 2 Linienschiffe, 3 Große Kreuzer und 4 Kleine Kreuzer. Das Gesetz, betreffend der deutschen Flotte vom 10. April 1898, Paragraph 7 bestimmt für die nächsten sechs Rechnungsjahre von 1898 bis 1903, dass der Reichstag für die Marine-Etats
stellt, davon für für Schiffsbauten und Armierungen mehr als 356 700 000 Mark. Für die fortdauernde Ausgabe des Marine-Etats stellt er mehrmals eine durchschnittliche Steigerung von 4 900 000 Mark jährlich bereit.
Der Entschluss zum
Flottenbau war weitreichend und belastete das Verhältnis zu Großbritannien.
Die Folgen schreiben sich tief in das politische Bewußtsein und
Leben von Posadowsky ein. [Kräftegleichgeheit herstellen zurück] Posadowsky ist bereit, erzählt es das Protokoll über die Etatberatung des Deutschen Reichstags vom 14. Dezember 1899 (240f.), die gewaltigen, weiter steigenden Staatsausgaben der Flottenrüstung zu finanzieren. In dieser Debatte gerät Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst unter den Druck der Mittelparteien. Die Rechten glänzen mit harten Worten gegen die Reichsregierung, während Eugen Richter von der 1884 gegründeten Freisinnigen Partei erneut gegen die Militärausgaben polemisiert und den Reichstag darüber informiert, dass die deutsche Jugend die Flottenrüstung wolle, und es wäre ein schwerer Schlag für den Liberalismus, dies nicht zu erkennen. Posadowsky ergreift die Gelegenheit, um eine Lektion über den Wert der Androhung von Gewalt zu halten:
[Rettung bringt die maritime Defensionsakte zurück] Um dem Volk die letzten Bedenken für die militärisch gestützte Außenwirtschaftspolitik zu nehmen, verweist Posadowsky am 6. Dezember 1897 (59) im Reichstag auf die "maritime Defensionsakte". In diesem Modus bekommt die englische Regierung zum Bau von Schiffen einfach eine Summe zur Verfügung gestellt, über die sie frei disponieren kann. Und wenn das, wie er ausführt, im "klassischen Land des Parlamentarismus" üblich, muss man sich in Deutschland nicht weiter um die demokratische Entwicklung ängstigen. [Mehrheitsmeinung und Untertanenverstand zurück] Wird "die Nation stark und opferwillig genug sein", die finanzielle Aufgabe der Flottenrüstung "zu lösen". Hierauf antwortet Graf von Posadowsky: Man muss Vertrauen haben "und von der Zukunft hoffen", "dass die Nation stark und opferwillig genug sein werde, diese Aufgabe auch finanziell zu lösen. Einen mathematischen Beweis wird Ihnen der Herr Staatssekretär auch nicht erbringen können, dass die Entwicklung immer so sein wird, dass wir ohne neue Opfer diese Flottenverstärkung tragen können! Wenn aber die Mehrheit des Hohen Hauses der Ansicht ist: wir brauchen eine stärkere Flotte zur politischen und handelspolitischen Entwicklung Deutschlands - dann müssen wir auch den Mut haben, diesen Schritt zu unternehmen und, wenn es notwendig ist, auch die Mittel dafür aufzubringen. (Bravo! Rechts)" (Posadowsky RT 14.12. 1899, 3388) Gegen diese Argumentationslinie zur ideologischen Legitimierung der Flottenrüstung interveniert am 19. Februar 1912 (132) Doktor Hermann Paasche (1851-1925) von der Nationalliberalen Partei im Reichstag: "Ich möchte mich aber da auch mit einem Wort des Herrn Grafen v. Posadowsky beschäftigen, dem ich nicht zustimmen kann, wenn er gesagt hat: entweder haben wir Vertrauen zu unserm Kriegsminister, zur Marine und Heeresverwaltung, dann müssen wir alles bewilligen; oder wir haben kein Vertrauen, dann dürfen wir ihnen nicht die Geschäfte unserer großen Heeresverwaltung usw. anvertrauen. Ja, meine Herren, ich glaube, dazu gehört nicht viel Aktenstudium, diesen Grundsatz vom beschränkten Untertanenverstand aufzustellen. (Sehr wahr!) Das ist ungefähr das, was in anderer Tonart laut ward:
Die Masse ist bei der Entscheidungsfindung für Selbsttäuschung, Moden, Oberflächlichkeit, Suggestibilität, Gehorsamkeit und Okkultismus anfällig, woraus bekanntlch für die rationale Entscheidungsfindung erhebliche Gefahren resultieren. Trotzdem erteilt Posadowsky der Urteilsfindung durch Mehrheitsmeinung die Approbation. Solange das Axiom des Relativismus gilt, also jede politische Auffassung, "die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staate zu überlassen", anerkannt wird, betrachtet die Demokratietheorie dies als legitim. Doch darf sie, fordert Gustav Radbruch (1878-1949) in der 1914 erschienenen "Rechtsphilosophie" weiter, nicht mit bestimmten Auffassungen identifiziert werden, weil es ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen ebenso wenig wie die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien gibt. Es ist völlig klar, dass hieraus weitreichende praktische Konsequenzen für Gesellschaft und Politik resultieren .... [Manipulation mit der neutralen Bedeutung zurück] Den bereits im Reichstag florierenden Begriff der "Flottenschwärmerei" lehnt Posadowsky ab und beliebt am 9. Februar 1900 aus Anlass der Novelle des Flottengesetzes von 1898 (294) festzustellen:
Ganz so kann es nicht gewesen sein. Denn von dem lebhaften Interesse der Massen blieb nicht viel übrig, als SPD-Reichstagsabgeordneter Richard Fischer am 12 Januar 1901 vor dem Reichstag in der Bueck-Woedtke-Posadowsky Affäre auspackte und nachwies, dass der CdI (Centralverband deutscher Industrieller) zur Flottenrüstung Jubelfeiern organisierte und sponserte. Es war offensichtlich so, dass nicht bei allen Bürgern die waffenstarrende Welt Freudentaumel auslöste, weshalb die Politiker nur schwerlich bei der Wahrheit bleiben konnten, wenn es sich darum handelt, dem Militarismus einer mehr oder weniger feindlichen Wählerschaft für die Bewilligung neuer Militärforderungen geneigt zu machen. Schwindel bleibt deshalb Trumpf und durchzieht die ganze Agitation zu Vaterland, Verteidigung und Militär. (Vorwärts 29. März 1893) [Rüstung als Kulturausgabe zurück] Nun gilt es, Richter`s Argument von den unverhältnismäßig hohen Militärkosten niederzuringen (Posa RT 6.12.1897, 59). Und das geht so: "Wenn man von den ungeheueren Kosten der Marine spricht, so muss man meines Erachtens theilen zwischen den Kosten, die wirklich Kosten der Landesvertheidigung sind, und den Kosten, die ausgegeben werden für Schiffe, die unserem Handel Ausland schützen sollen. Dieser Theil der Marineausgaben, der bestimmt ist, unseren Handel im Ausland zu schützen, fällt nicht dem Konto der Landesvertheidigung anheim, sondern ist eine Ausgabe, die lediglich gemacht wird zum Schutz unserer Industrie und unseres Handels,
[Eine Alternative zurück] Bebel stellt es so dar, moniert Posadowsky am 13. Dezember 1897 im Reichstag, als wenn Deutschland von England, Rußland und dem Panamerikanismus vollkommen eingesackt würde. Deshalb müssen wir schon jetzt neue Handelsgebiete aufsuchen und dem Handel erhöhten Schutz gewähren. Warum hat er dann aber, fragt er, nicht beim Ausbau der Flotte mitgearbeitet? - Die Antwort darauf findet sich in seiner Reichstagsrede vom 11. Dezember 1897 (162). Vor die Entscheidung gestellt, in die Rüstung oder Entwicklung der Gesellschaft zu investieren, fällt seine Antwort deutlich anders aus als bei Posadowsky:
Aber Sie haben ja nicht die Mittel! Wie traurig sieht es mit dem Fortbildungsschulwesen, mit dem landwirthschaftlichen sowohl wie mit dem gewerblichen aus! Nirgends Mittel! Meine Herren, ich führte an, daß in Oberschlesien allein es an 1200 Schulen giebt, in welchen mehr als 80 Schüler auf einen Lehrer kommen! Wenn Sie dem Kriegsminister die Zumuthung machen wollten, daß er die Lehrer seiner Armee, die Offiziere und Unteroffiziere, in demselben Maße reduziren sollte, wie Sie das für die armen Kinder des Volks jetzt thatsächlich thun, dann würde er erklären: meine Herren, ich kann keine Stunde mehr Kriegsminister." Das ist durchaus richtig, untermauert der Abgeordnete Eugen Richter zwei Tage später in seinem Debattenbeitrag, was August Bebel über die schlechten Schulverhältnisse ausführte. "Es ist auch keine sozialdemokratische Entdeckung, daß jetzt die Kulturaufgaben unter den Militärausgaben leiden". Weniger verständnisvoll nimmt er auf, dass Posadowsky die herabsetzende Kritik von Bebel an den Handelsverträgen nicht moniert. [Der Champion zurück] Am 14. Dezember 1899 möge der Reichstag beschließen, dass die Zahl Schlachtschiffe verdoppelt werden soll, statt 19 Linienschiffe 40! Herr Schatzsekretär Posadowsky beziffert die jährlichen Mehrausgaben für das Flottengesetz 1898 auf 25 Millionen Mark. Eugen Richter (14.12.1899, 688 f.) rechnet nach und präsentiert schließlich die Summe von 125 Millionen Mark jährlich anfallender Zusatzkosten. Seine Kritik reicht weit über die finanziellen Folgen der hohen Rüstungsausgaben für die Bürger und Gesellschaft hinaus. Er beobachtet (1899, 705), dass sich die Kultur und gesellschaftliche Denkweise ändert, erkennt die Gefahr der Entstehung einer gesellschaftlichen Hypermoral, die nach der Maxime verfährt:
Der neue Champion
lässt nicht von Naturrecht, sondern vom positiven Recht
leiten, wie am 6. Dezember 1897 Staatssekretär des Auswärtigen
Freiherr von Bülow zur Haiti-Frage klarstellt: "Ich gebe mich
der Hoffnung hin, daß ..... Regierung nicht länger zögern
wird, unseren Anforderungen Folge zu geben, die ebenso wohlberechtigt
und wohlbegründet wie maßvoll sind. Ich
gebe mich dieser Erwartung um so lieber und um so bestimmter hin, als
wir nicht nur das gute Recht auf unserer Seite haben, sondern auch den
Willen und die Macht, unserem Rechte Geltung zu verschaffen. (Lebhaftes
Bravo.)" [Wir verlangen unseren Platz an der Sonne zurück] "Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben," erklärt am 6. Dezember 1897 Bernhard von Bülow (1849-1929), "gerade in Ostasien die Interessen unserer Schifffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen." "Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und
geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. (Lebhaftes Bravo.) Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. (Bravo!) .... Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren
Der Staatssekretär des Äußeren verkündet bei dieser Gelegenheit (also aus Anlass der Ersten Berathung des Entwurfs des Gesetzes, betreffend der deutschen Flotte) im Reichstag den neuen Leitsatz deutscher Außenpolitik:
Die internationale Konkurrenz der Großunternehmen, der Banken- und des Handelskapitals um Abatzmärkte verschärft sich und penetriert, verbunden mit "unaufhaltsame(n) Vordringen in alle Welttheile" (Bülow 1900), in die Handels- und Außenpolitik der Staaten. Graf von Posadowsky prophezeit am 2. März 1899 (111) auf der Fünfundzwanzigsten Plenarversammlung des Deutschen Handelstages in Berlin:
Es ist, so deutet es Rosa Luxemburg 1913 in "Die Akkumulation des Kapitals" (391), der Kampf "um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus." Eine Einschätzung, die sich in der einen oder anderen Weise wiederholte, schrieb doch zum Beispiel Lenin bereits im Sommer 1905 an Alexandra Michailowna Kollontai (1872-1952): "Der Kernpunkt ist jetzt der Kampf zwischen den Großmächten um die Neuaufteilung der Kolonien und um die Unterwerfung der kleinen Staaten." Interesse weckt seine Auffassung, die verschiedenen Typen der Kriege zu unterscheiden. Es nicht zu tun, worauf er beharrt, wäre theoretisch falsch und praktisch schädlich. Denn "Wir können nicht gegen nationale Befreiungskriege sein." Da nun dieser methodische Ansatz oft übergangen wird, deklariert man deren Wiederaufnahme öfter als Marxistisch, was dann ebenso die bereits dargelegte Auffassung von Posadowsky über "das kleine, tapfere Volk der Buren" umfassen würde. [Kanonenboot-Politik zurück] Die Besetzung der Bucht von Kiautschau (Jiaozhou) und der Hafenstaft Tsingtau (Qingdao) durch Deutschland 1897 unter Drohung mit Kanonenbooten markieren den Übergang zu einer ehrgeizigen, politisch und militärisch-aggressiven Weltpolitik. (Lagebericht 1898) Die "Erschließung" des Agrikulturstaates China mit 360 Millionen Einwohnern "ist nothwendig geworden für die kapitalistische Produktionsweise", schreibt Karl Kautsky 1898 im Aufsatz "Kiaotschau", worauf dann bald die Schlussfolgerung detoniert: Die "Kapitalistenklasse muss danach trachten, diesen größten ihr noch verschlossenen Markt zu eröffnen, und sie wird es durchsetzen."
"Bülow rechtfertigte die Okkupation auf dem chinesischen Festland mit dem Argument, dass die deutsche Industrie, die den amerikanischen Markt über kurz oder lang doch verlieren werde, ein größerer Absatz in Ostasien ermöglicht werden müsse." (Mommsen 2005, 96) Die vorläufigen Kosten der ersten Aktion der deutschen Weltpolitik belaufen sich nach Eugen Richter (1898, 691) auf 10 Millionen Mark. Die Hinterbliebenen der Chinakämpfer erhalten laut einem im Januar 1901 dem Bundsrat voliegenden Gesetzesentwurf 33 1/3 Prozent höhere Zuschüsse, als sie nach dem Militärpensionsgesetz von 1871 beanspruchen dürften. (JV 11.1.1901) [Der Kuli pocht an die Thore Europas Kautsky 1898 zurück] Zwei Jahre vor der Okkupation von Jiaozhou tauchten Pläne von Wilhelm II. zum Bau einer großen Schlachtenflotte auf. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 wachsen die deutschen Begehrlichkeiten gegenüber dem geschwächten China. Den Vorwand zur Intervention bot am 1. November 1897 der Mord an zwei katholischen Priestern in der Provinz Shandong. August Bebel kritisiert am 19. November 1900 im Reichstag (20) scharf die verbreitete Neigung zur Manipulation der Schuldfrage: ".... nach allen Richtungen hin" ist "an diesem Volke seit Jahrzehnten gesündigt worden. Bei jedem anderen Volke der Welt, außer bei diesen außerordentlich geduldigen, füg- und schweigsamen chinesischen Volk würden solche Mißhandlungen schon längst den Ausbruch des Zorns und der Rache hervorgerufen haben, deren Zeugen wir in den letzten Monaten gewesen sind. (Sehr wahr! sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)" Besonders erregt August Bebel ( RT 19.11.1900, 20/21) die Schönrednerei von Kanzler Bülow. Ihm ist völlig unklar, wie er die Rolle des deutschen Missionswesens deutet, warum er so tut, also ob gegen sie bis heute kein Vorwurf erhoben werden kann. Wenn, egal ob evangelische oder katholische Mission, die für ihre religiöse Überzeugung Propaganda machen wollen, lautet sein Standpunkt, dann ist das Privatsache. Der Staat sollte sie nicht in Schutz nehmen. Bei der Ablehnung der Missionsarbeit stützt er sich auf die verhängnisvolle Rolle (Bebel) von Bischof Johann Baptist von Anzer (1851-1903), dem die katholische Mission im Süden der Provinz Shandong am Unterlauf des Gelben Flusses, einem Landstrich mit einer langen Tradition des Taoismus und Konfuzianismus, unterstellt ist. (Details) Kanonenbootpolitik und Missionarstum drohen anderen Nationen und Völkern, den Weg zu selbstbestimmten institutionellen und wirtschaftlichen Reformen abzuschneiden.
Es scheint so, als wenn in diesem Moment Posadowsky mit einem klaren Urteil zögert. Jahre später, am 24. August 1924, fordert er am Gedenkstein für die im Kriege Gefallenen Domschüler Selbsterkenntnis und außenpolitische Selbstbeschränkung. Heute kann er das nicht. Über das Warum und Wieso, wäre lange zu diskutieren. Jetzt hilft erstmal Eugen Richter (RT 14.9.1899, 3370) mit klaren Worten aus: "Deutschlands Beruf ist es nicht, auf andere Völker loszuhämmern. Wir wollen es jedem Volksstamm überlassen, in der Facon sich zu entwickeln, nach seinem Gefallen und seinen Verhältnissen entsprechend, und haben nicht den Beruf, auf ein Volk loszuhämmern und ihm die Gestalt zu geben, die uns als die richtige erscheint." [Weltpolitik zurück] ".... die jüngsten Ereignisse in China sind weder Zurückzuführen auf Kiautschou noch auf Hongkong, weder auf Tonkin noch auf Port Arthur, weder auf diese noch jene fremde Macht," erklärt am 19. November 1900 (12) Bernhard von Bülow im Deutschen Reichstag, "sondern die Krisis, die wir jetzt in China durchmachen, ist eine Etappe, welche
Natürlich stieß dies auch auf strikte Ablehnung. "Wenn erst die Phantasie anfängt, sich mit dem Begriff einer Weltpolitik eines Deutschen Weltreichs zu beschäftigen," dann hat der Herr Abgeordnete [Aloys] Fritzen [*19.2.1840] Recht:
In der westlichen Politik fallen On-The-World Optimismus und die Verkündigung der Ideale und Praxis weit auseinander. Sie ist mit der Täuschung über die Ziele und Folgen der Kolonialisierung verbunden. "Warum spricht man aber nicht auch von den scheußlichen Metzleien," fragt August Bebel (RT 27.11.1893), "welche sich unsere Schutztruppe bei der Erstürmung des Hornkranz [am 12. April 1893] hat zu Schulden kommen lassen, von der entsetzlichen Thatsache, daß von den niedergemetzelten Menschen der größte Teil aus wehrlosen Frauen und Kindern bestanden hat?" Idee und Anspruch der Weltpolitik gehen schwanger mit der Überschätzung der politischen Macht und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands. Wir ".... glaubten, eine Weltmacht nicht nur zu sein zu können, sondern auch wirklich zu sein." Diesen Irrtum büßte das deutsche Volk mit dem Ausgang des Krieges "auf das Furchtbarste", rechnet der Russlandexperte und Berliner Hochschulprofessor Otto Hoetzsch (1876-1946), politisch Deutschkonservativ (DKP) und Deutschnational (DNVP) orientiert, in seiner streng vertraulichen Denkschrift vom Oktober 1918 vor. "Es kann keinen Zweifel darüber bestehen," zensiert August Bebel (SPD) die deutsche Ostasienpolitik am 11. Dezember 1900 im Reichstag, "daß das erste große weltpolitische Abenteuer, mit dem die berühmte Weltpolitik in die Praxis eingetreten ist, die Chinaffäre, schon heute mit einem débâcle nicht bloß für Deutschland, sondern für die sämtlichen in China betheiligten Mächte geendigt hat." China könnte "für Deutschland ein deutsches Transvaal" werden. [Die schönen Zeiten sind zu Ende .... zurück] Jedes Jahr im Dezember ruft der Reichstag zur Beratung und Verabschiedung des Staatshaushalts. 1903 beginnt sie am Zehnten des Monats. Am Bundesratstisch im Reichstag nehmen Graf Reichskanzler von Bernhard von Bülow, Freiherr Hermann von Stengel (Reichsschatzamt), Graf von Posadowsky (Inneres), Alfred von Tirpitz (Reichsmarineamt) und Karl von Einem (Kriegsminister) Platz. Die Reichsfinanzen sind in keinem guten Zustand. Die Finanzpolitik ist auf dem falschen Weg. Dazu wird August Bebel sprechen. Er bereitet sich gründlich vor. Viel, zuviel steht auf dem Spiel. Nicht nur die geordneten Staatsfinanzen. Auch zur deutschen Ostasienpolitik darf man sich keine Missverständnisse leisten.
Es ist zu befürchten, dass Deutschland durch die Weltpolitik in "große Weltverwicklungen hineingestürzt", "welche die allerschwersten Opfer von uns erheischen." Es analysiert das Verhältnis von Aufgaben, Kosten einerseits und die ökonomischer Leistungsfähigkeit des Landes andererseits. Die "große Prosperitätsepoche" von 1895 bis 1900, sagt er, ist vorbei. Zwar gingen die Einnahmen sprunghaft in die Höhe, doch die großen Flottenvorlagen von 1898 und 1900 sorgten dafür, daß die Ausgaben des Reiches bis in "unabsehbare Zukunft" gewaltig steigen werden. Mit den berüchtigten Zuschußanleihe ist "ein Weg betreten", "der mit Artikel 70 der Verfassung direkt im Widerspruch steht". Die schönen Zeiten
sind zu Ende und sie versuchen Es wäre leicht durch eine Erbschaftssteuer mindestens 300 Millionen Mark aus den Taschen der besitzenden Klassen herauszuziehen. Aber sie wehren sich "auf das entschiedenste" gegen die Reichseinkommen- und Reichserbschaftssteuer. Dafür plant man jetzt eine Wehrsteuer, die "ihre Haupteinnahmen aus den ärmeren Klassen" schöpft. Zwar fühlen sich die Einzelstaaten von der Finanzwirtschaft des Reiches unabhängig und von unangenehmen direkten Steuern abgesichert, doch verleitet es sie zu unnützen Ausgaben und macht neue indirekte Steuern im Reich notwendig. Zieht man dazu die kolossalen Schulden in Betracht, "dann sollte man sich wirklich sagen, das kann unmöglich so weitergehen." Das "denkbar traurigste Ergebnis unserer Politik" sind die Ausgaben für Weltpolitik. 1897 betrug die E i n f u h r von China nach Deutschland 57,4 Millionen Mark und 1902 55,5 Millionen Mark. Und wie hoch waren doch die Aufwendungen? Für Kiautschau etwa 70 Millionen Mark.
Bei der Gelegenheit öffnet er sich einem anderen wichtigen Terrain der deutschen Außenpolitik: "Wie ich die Stellung Deutschlands zu dem japanisch-chinesischen Krieg nicht begreifen konnte, so halte ich auch die jetzige Haltung Deutschlands den russischen Eroberungsgelüsten in Ostasien gegenüber für verfehlt." Eine kritische Haltung nimmt der Redner gegenüber den Militärs in Bereich der Rüstungsgüterbeschaffung ein, weil sie höchst leichtfertig vorgehen. Das bedingt, "das unser gesamtes Kriegsmaterial im Kriegsfall unterwertig ist". Zu der damals im Rahmen der Artillerievorlage 1896 eingeführten neuen Feldhaubitze, erklärt heute Generalleutnant Georg von Alten (1846-1912), dass "auf 100 Schuss" "höchstens zwei Treffer" kämen und dafür 30 Zentner Blei verschossen werden müssen. (Alles Bebel RT 10.12.1903) [Schuld sind die Europäer und Amerikaner zurück] Baron von Korff, eigentlich Emanuel von Schmysingk (1826-1903), berichtet 1893 in einem Buch darüber, dass die chinesische Bevölkerung ständig Schikanen unausgesetzt ist. Wenn der Chinese in die Nähe eines Europäers oder Amerikaners kam, wurde er gepeitscht oder mit Stöcken geschlagen. Er sah wie man den Leuten ihre aus Bambus gefertigten Karren und Wagen bei Seite schleuderte und mit den Füßen zertrat, wie man auf den Schiffen die Leute mißhandelte, so daß dadurch "nothwendig eine hochgradige Erbitterung, Haß und Rachelust angesammelt werden müsse und sich eines Tages schwer an den Europäern und Fremden rächen werde." "Das Vorausgesagte ist jetzt eingetroffen." "Ich klage", erhebt am 19. November 1900 (22/23) August Bebel im Reichstag die Stimme, "hiermit Europa und die Vereinigten Staaten an, daß sie die wirklichen Urheber der Wirren sind, die wir in China haben. (.....)"
Kohlehandel-Syndikate
zurück Die Gründung der AEG zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats (RWKS) sind protypische Erscheinungen der schnellen Konzentration der Produktion. In Kleinstädten äußern Bürger Unwillen über den ab 1900 forcierten Bau städtischer Warenhäuser und ihre Auswirkung auf die Kleinhändler.
Vom Centralverband deutscher Industrielle (CdI) dringt in Vorbereitung für die am 9. April 1902 geplanten Konferenz herüber, dass binnen weniger Jahre in Deutschland 300 Syndikate, Kartelle und Konventionen entstanden sind. Achtzig von ihnen fallen auf den Handel und zweihundertzwanzig auf die Produktion. Mehr als einmal beklagte sich der kleine Mittelstand über die rüde Art der neuen Kapitalassoziationen, die viele Existenzen zerstörte. Angeblich versuchte man dieses Problem von der Regierung, durch eine entsprechende Steuergesetzgebung zu entschärfen, was von öffentlicher Seite zugegebenermaßen als wirkungslos eingeräumt wurde. Die "ungesunde Konkurrenz", von Karl Marx im Kapital Band I (790) einst mit dem Bonmot beschrieb, je ein Kapitalist schlägt viele tot, soll im Kohlenmarkt mit der Kartellbildung und syndizierten Zechen überwunden werden. Hierzu praktiziert das RWKS neue Form der Produktions(-abstimmung) und Organisation des Absatzes, indem es den Unternehmen bestimmte Beteiligungen am Gesamtabsatz zuweist, die jedes [Syndikats-] Mitglied erforderlichen Falls herabsetzen kann durch: [1.] Abstimmung der Kapazitäten, [2.] Festlegung der Preise und [3.] Gestaltung der Geschäftsformen und Mengen des Vertriebs. (Vgl. Otto Bartz 1913) Die Tendenzen zur Syndizierung, Kartell- und Monopolbildung sowie Konzentration der Produktion und des Handels haben sozialen Auswirkungen. Als Industriemanager Emil Kirdorf (1847-1938) auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik in Mannheim dazu auffordert mit den Arbeiterorganisationen nicht zu verhandeln, stellt er 1905 klar, in welchem System industrieller Beziehungen von Arbeiter und Unternehmer sich die ökonomischen Wandlungen realisieren soll: Also keine Beziehungen zur Sozialdemokratie, auch nicht mit den außerhalb von ihr stehenden Organisationen, die noch schlimmer sind, weil sie ihre Pläne unter dem Mäntelchen christlicher Liebe und Eintracht versteckt halten. (Vgl. Der Gewerkverein Nr. 7) Die deutsche Wirtschaft wandelt sich vom System der freien Konkurrenz zur monopolistischen Konkurrenz mit einem hohen Konzentrationsgrad des Kapitals.
"Das ist umso schlimmer," beschreibt am 11. Dezember 1897 August Bebel die sozialen Implikationen und Auswirkungen, "als heute, in einer Periode des größten wirtschaftlichen Aufschwunges, wo insbesondere in der Kohlenindustrie ein ausgezeichneter Geschäftsgang seit Jahren blüht, und Dividenden und Profite eingesackt werden, wie sie seit Jahrzehnten nicht vorgekommen sind, unsere Kohlenbarone also Millionen über Millionen einheimsen, und die Arbeitskräfte aus aller Herren Ländern bezogen werden, weil sie in Deutschland angeblich nicht zu haben sind, die Löhne nicht gestiegen sind, weil die Arbeiter nicht wagen dürfen, sich zu organisieren." Über die Schwierigkeiten mit den neuen Kapitalassoziationen ist Staatssekretär Graf Posadowsky gut informiert. Ihm liegen genügend Klagen aus weiten Bevölkerungskreisen zur "schwer bedrückende(n) Kohleteuerung" vor. In den Regierungen, Preußen wird genannt, überlegt man wie man sie besser kontrolliert und gestaltet. Auf keinen Fall will der Staatssekretär des Innern die modernen Triebkräfte der Wirtschaft hemmen oder zu alten Formen der Wirtschaft zurückkehren, räumt aber ohne Weiteres am 13. Dezember 1905 im Reichstag ein: "..... diese Assoziation des Kapitals hat sehr düstere Seiten und ist für den Mittelstand eine große Gefahr!" "Ich bin der Letzte, der ein Loblied auf sie singen will ." Und was wird aus dem Mittelstand? Sozusagen ad libitum merkt der Staatssekretär an, dass einiges geschehen muss, um das technische und kaufmännische Niveau der Ausbildung zu heben, also ihn möglich zu machen. Gleichwohl wirkt das unsicher, es klingt nach vertrösten. Von Anti-Trust-Gesetzen hört und ließt man nichts.
So
konnten die Petroleum-Monopolisten in Deutschland Die Standard Oil Company beabsichtigt in Deutschland weiter zu expandieren. Besonders die Folgen des Konkurrenzkampfes und Fragen der Preisbildung beschäftigen die Öffentlichkeit. Zunächst scheint zweckmäßig, um die Reaktionen von Graf von Posadowsky zu verstehen, einen kurzen Überblick über die Lageentwicklung auf dem Petroleum-Markt zu geben. "Im Jahre 1895 waren die Versuche, den Petroleumhandel vollständig zu monopolisieren, fast bis zum Abschluss gediehen. Die Welt war zwischen den amerikanischen und russischen Petroleumproduzenten bis auf die letzte Insel im Weltmeere aufgeteilt worden." Die amerikanische Standard Oil Company bediente die atlantischen Länder einschließlich Deutschland, während die russischen Petroleumkönige außer in Russland, Ostafrika und Asien über ein fast unumschränktes Absatzfeld herrschten. "Der Vertrag wurde so prompt ratifiziert, dass in Ostasien der amerikanische Import von 74 pCt in 1894 auf 55 pCt in 1995 sank, der russische dagegen von 26 auf 55 pCt anstieg. Als strittiges Terrain waren nur noch die Mittelmeer-Länder verblieben. Aber auch hier war bald eine Einigung erzielt. Italien verblieb bei Standard Oil Company, Österreich, soweit es nicht dem vorzüglichen galizischen Petroleum versorgt wurde, wurde zum alleinigen Absatzfelde der Russen."
Eine Ausnahme bildete die Firma Philipp Roth, die in Mannheim eigene Tankanlage herstellte und versuchte den süddeutschen Raum zu erobern. Ein aussichtsloser Kampf, in dem der Unternehmer schließlich unterlag und seine Firma in der Mannheim-Bremer Petroleumgesellschaft als eine Filiale der Deutsch-Amerikanischen aufging. "Lange Zeit schien es, als ob die Nobel-Gesellschaft nicht gemeinsames Spiel mit den Rockefeller, Rothschild und der russischen Regierung machen wolle. Um sie zu beschwichtigen, überließ man ihr das Reservatrecht der Alleineinfuhr nach Deutschland, was in Anbetracht der technischen Bedeutung russischen Schmieröles ein recht lukratives Geschäft ist. Aber auch ihr Trotz scheint definitiv gebrochen zu sein; denn die Einfuhr russischen Leuchtöls sank in den ersten 9 Monaten dieses Jahres auf 187 000 Doppelzentner gegenüber 275 000 Doppelzentner im gleichen Zeitraume des Vorjahres."
Ein guter Teil der Geschichte des Petroleum-Monopols spielte sich in Deutschland auf dem strittigen Terrain der einst feindlichen, jetzt friedlich vereinten Brüder statt. Das Land verbraucht etwa ein Drittel des gesamten amerikanischen Leuchtöl-Exports für sich allein, einschließlich des Schmieröls, leichterer Petroleumdestillate, von Massuth (Naphta-Rückstände), zirka 1/8 der Produktion der ganzen Welt. Eine nationale Erdölförderung kam trotzdem nicht in Betracht, weshalb Deutschland auf Importe angewiesen ist. Eigentlich hätte die deutsche Regierung jeden Monopolisierungsversuch der Rockefeller und Rothschilds von vornherein einen Riegel vorschieben müssen. Denn die Einigung der großen Erdölmagnaten geschah nicht von heute auf morgen, sondern im Resultat eines mörderischen Konkurrenzkampfes. Doch die deutsche Regierung blieb untätig, was eine "stumme Begünstigung" bedeutete. "So konnten die Petroleum-Monopolisten in Deutschland schalten und walten wie in einem eroberten Land." Die deutsche Reichsregierung ist deshalb nicht unschuldig an dem Zustandekommen des Petroleum-Weltmonopols. (Nach Neues vom Petroleum-Monopol, 1897)
Die
Amerikaner Im Reichsschatzamt oft mit Strukturen und Folgen monopolistischer Konkurrenz konfrontiert, setzt sich Graf von Posadowsky in der Reichstagssitzung am 9. Dezember 1897 (RT 113ff., 115) speziell mit der Expansion der Standard Oil Company in Deutschland auseinander. Er erinnert sich an die großen Schwierigkeiten mit der Preisbildung im Jahr 1895. Jetzt ist anzuerkennen, dass mit der Gründung der Filiale der Standard Oil Company, der deutsch-amerikanischen Petroleumgesellschaft in Bremen, die Preise für den Konsumenten fortgesetzt gesunken sind. Das ist erfreulich und ein Erfolg des technischen Fortschritts bei der Gewinnung, Organisation des Handels und Verteilung ihres Produkts. Er schildert kurz die Ereignisse um die deutsche Mannheimer Gesellschaft und verließt dazu eine Erklärung, die ein Vertreter der deutsch-amerikanischen Gesellschaft verfasst. Es ist nach seiner Ansicht unbedingt davon abzuraten, dass die Mannheimer noch weitere Vertragsabschlüsse anstrebt. Damit erscheint ihm aber das volkswirtschaftliche Problem nicht gelöst. Bei der großen Preissteigerung 1895 kam bei Posadowsky die Frage auf, ob es denn nicht richtig und notwendig wäre, die deutschen Firmen in Mannheim und Bremen zu unterstützen. Zur Vorbereitung des Eisenbahntransports und zur Anschaffung großer Tankschiffe für die Ozeane und Flüße wäre dazu viel Kapital notwendig. Das Risiko wäre für den Staat zu groß gewesen, weil unklar, was die Standard Oil Company unternehmen wird, womit der Erfolg keineswegs sicher war. Die Presse-Kritik am zögerlichen und ausbleibenden Handeln der Reichsregierung, betont Posadowsky, ist "vollkommen unberechtigt". Freilich ist demnächst zu erwarten, daß die Amerikaner ihr Monopol in Deutschland weiter ausdehnen und möglicherweise unbillige Preissteigerungen herbeiführen werden. Zur Lösung der Probleme unterbreitet eine Reihe von Vorschlägen: "Der eine Weg besteht zunächst in der Begünstigung des russischen Petroleums." Das ist bereits in der Weise geschehen, dass die Zollabfertigung des russischen Öls nach Volumen und nicht nach Gewicht erfolgt, weil es bekanntlich ein größeres spezifisches Gewicht aufweist als das amerikanische. Trotz dieser Begünstigung ist die Einfuhr des russischen Öls rückläufig. "Welche Mittel könnten wir nun weiter ergreifen, um dem russischen Petroleum die Versorgung des deutschen Marktes zu erleichtern." Eine weitere Möglichkeit wäre, den Flammpunkt des Öls zu erhöhen, womit das minderwertige amerikanische Öl ausgeschlossen würde. Dies wäre allerdings mit preislichen Opfern der deutschen Konsumenten verbunden. Außerdem könnte man der Raffination des Petroleums für den Eigenverbrauch nach Deutschland verlegen. Dazu müsste eine Zolldifferenz zwischen Roh- und raffinierten Petroleum eintreten. Damit wäre sicher eine Verteuerung verbunden. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, daß die Produkte zu den Nebenprodukten der Braunkohleindustrie in Konkurrenz treten würden. Ein anderer Möglichkeit, um das russische Petroleum zu begünstigen, besteht darin, die Gebühren für die Eisenbahnfracht herabzusetzen. Seit dem 5. Oktober 1897 ist für den Transport des russischen Petroleums von Alexandrowo zu den deutschen Stationen der Ausnahmetarif Nummer 20 gültig. Die Beförderung von raffinierten russischen Petroleum erfolgt in Wagenladungen von je 10 000 Kilogramm. Desweiteren soll Spezialtarif Nummer 3, schlechtweg der billigste Tarif für Rohprodukte in Preußen, Anwendung finden, womit sich die Frachtkosten um ein Drittel verringern. (Vgl. Posa RT 10.12.1897, 125) Schließlich wäre es möglich, die Zölle für das Öl des amerikanischen Trusts zu erhöhen. Im Fall der amerikanische Konzern mißbraucht seine Macht, dann könnte die deutsche Landwirtschaft die Spiritusproduktion erhöhen. "Meine Herren, ich meine," fasst Posadowsky zusammen, "wir haben immer noch, wenn auch wie ich angedeutet habe, beschränkte Mittel, gegen eventuelle Mißbräuche der Standard Oil Campany zu kämpfen, selbst wenn uns dieser Kampf vorübergehend gewisse Opfer auferlegen sollte." Die weiteren Ereignisse sollen mit einer Bemerkung von Eduard Bernstein (SPD) am 22. Februar 1906 im Reichstag ihre Abrundung erfahren: Wir sind auf das Petroleum von Amerika "absolut angewiesen", weil uns Rußland nicht versorgen kann. Und es ist dabei zu beachten, dass es als Leuchtmittel und Heizmaterial einer großen Klasse von Arbeitern dient, speziell auch den Heimarbeitern, die darauf angewiesen sind und Preiserhöhungen nicht vertragen.
Der
"Sozialismus ist ihm Die Sozialdemokraten haben, sagen sie, an der Konservierung überlebte Wirtschaftsformen kein Interesse und sind offen für Veränderungen, stehen den modernen Assoziationen nicht feindlich gegenüber. Sie feuern Staatssekretär Posadowsky noch an, alle Kräfte freizumachen, "die heute noch gebunden sind". Andererseits möchten sie noch immer den Kapitalismus beseitigen, weil die Privatbetriebe "nur Rücksicht auf den Vorteil der Kapitalbesitzer" nehmen, "nicht" aber "auf das Interesse der Gesamtheit". "Das begreift Graf Posadowsky nicht. Seine Einsicht ist äußerst kurzsichtig", urteilt am 16. Dezember 1904 der Vorwärts aus Berlin. " . die positiv schöpferische Kritik des Sozialismus ist ihm nach wie vor völlig verschlossen."
Tuberkulose-Bekämpfung zurück
Altruistisch, außerhalb seiner administrativen Zuständigkeit, engagiert sich Graf von Posadowsky in der nationalen Gesundheitserziehung und der sozialen Prävention von Krankheiten. Er will nicht nur Helfer in der Not sein, sondern die Gesundheit der Bevölkerung aktiv fördern. Die Sozialpolitik erschöpft sich für ihn nicht in der Installation der Krankenversicherungs- und Rentengesetzgebung. Der Geist von Freiheit und Wohlstand muss sich in der Prophylaxe bewähren. Noch rafft die Tuberkulose jedes Jahr Tausende dahin. Mit der Heilstättenbewegung rückt man der Krankheit zu Leibe. Auf der 30. Versammlung des Vereins zur Bekämpfung der Tuberkulose am 23. März 1901 setzt sich Posadowsky dafür ein, den Mangel an Kranken- und Genesungsheimen für die Tuberkulösen bald möglichst zu beseitigen. Die Elfte Generalversammlung des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose lädt Posadowsky zum 23. Mai 1907 nach Berlin ein. In seinem Eröffnungsreferat betrachtet er die Lungenkrankheit als soziale Krankheit, die biologische, hygienische und sittliche Ursachen hat, die oftmal besonders in ärmlichen Lebensverhältnissen gedeiht. Ein präventives Handlungskonzept erfordert daher ebenso den Kampf gegen das noch bestehende menschliche Elend. Die Regierung unterstützt deshalb die Kranken, die in den Familien gepflegt werden, aber auch die Heilstätten-Bewegung, wo auch Kinder behandelt werden können. Besonders im ersten Stadium der Erkrankung konnten große Erfolge errungen werden. "Wir sind bemüht," fast der Gastredner die staatlichen Bestrebungen in diesem Feld zusammen, "ein gesundes, arbeitsfrohes und lebensfrohes Geschlecht zu erziehen."
Graf
Posadowsky hat die Schlacht verloren zurück Die Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Reichstages lehnt am 20. November 1899 in zweiter Lesung - gegen die Stimmen der Konservativen - den Entwurf des Gesetzes zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses ab, worauf die sozialdemokratische Fraktion sichtbare Freude und Heiterkeit erfasst. Es war ein Erfolg im Kampf um das Streik- und Koalitionsrecht, das unter der Rubrik "Zuchthausvorlage" in der Geschichte der Arbeiterbewegung einen festen Platz gefunden hat.
Streiks, Aussperrungen, Arbeitswillige Im letzten Jahrzehnt nahm die Streikbewegung immer größeres Ausmaß an. Preußen registrierte vom 1. Oktober 1895 bis 1. April 1896 71 Streiks mit 3861 Ausständigen. Vom 1. April 1896 bis 1. Oktober 1896 waren es 304 Streiks mit 51 309 Streikenden. Unvergessen bleibt der am 1. Mai 1889 spontan, ohne zutun der Gewerkschaften auf der Großzeche Prosper II in Gelsenkirchen aufflackernde Massenstreik, der dann schnell auf schätzungsweise 80 000 beteiligte Bergleute anwuchs. Ebenso hinterließ der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1897/98 in der Öffentlichkeit und bei den Arbeitgebern einen tiefen Eindruck. Diesen Streik hätte man verhindern können, legte der Centralverband deutscher Industrieller (CdI) in einer Eingabe an den Kaiser und den Reichskanzler dar, wenn man ihren Vorschlag zum "Schutz der Arbeitswilligen gegen die Tyrannei der Streikenden" gefolgt wäre.
Die Vertreter der Regierung stützen sich natürlich, was vorab aller weiteren Details zum Zweck der Allgemeinverständlichkeit gesagt werden muß, auf die Auseinandersetzung Arbeiter gegen Arbeiter, die häufig darauf zurückzuführen war, den Beitritt der nicht organisierten Kameraden zu den Arbeiterkoalitionen zu erzwingen. "Die Arbeiterbewegung der letzten Jahre", heißt es in der Denkschrift zur Zuchthausvorlage 1899, hat "in beträchtlichen Maße strafbare Ausschreitungen im Gefolge gehabt." Über derartige Ereignisse berichtet am 8. Juni 1899 die sozialdemokratische "Volksstimme" aus Magdeburg ausführlich. Hiernach waren 1896 allein bei der Staatsanwaltschaft I Berlin unter Berufung auf Paragraph 153 der Gewerbeordnung 124 derartige Verfahren anhängig. Dabei umfasste das Spektrum der Ausschreitungen heftige Beleidigungen, schlimme Schmähungen, gefährliche Drohungen und Gewalttätigkeiten. Während der letzten großen Bergarbeiterausstände im rheinisch-westfälischen Kohle- und Saalerevier wurden wiederholt Dynamitanschläge, darunter drei auf Eisenbahnzüge, verübt." Aus vielen Orten wird auch von Ausschreitungen gegen Arbeitgeber (Sachbeschädigung, Beleidigungen, Hausfriedensbruch, Bedrohungen, Mißhandlungen, Erpressungsversuchen) berichtet." (Volksstimme, Magdeburg, 8. Juni 1899)
Bielefelder-Rede, 17. Juni 1897 Die Gegner der Arbeiterbewegung sprachen von "sozialdemokratischen Terrorismus". Aus dieser Perspektive betrachtet, erschienen staatliche Regulierungen und Eingriffe notwendig. Trotz der Bedenken, die aus seinem persönlichen Umfeld geäußert wurden, greift Kaiser Wilhelm II. frontal in die Streikkonflikte ein. Am 17. Juni 1897 fordert er in Bielefeld den
Ziel war es, die Tätigkeit von Streikposten zu unterbinden und jeden mit Zuchthaus zu bestrafen, der zum Streik aufreizte. Diese Drohungen nehmen im Gesetzesentwurf vom 26. Mai 1899 Zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses folgende Form an: Wer es unternimmt, durch körperlichen Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufserklärung Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur Teilnahme an Vereinigungen oder Verabredungen, die eine Einwirkung auf Arbeits- oder Lohnverhältnisse bezwecken, zu bestimmen oder von der Teilnahme an solchen Vereinigungen oder Verabredungen abzuhalten, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist auf Geldstrafe bis zu eintausend Mark zu erkennen. Die Bielefelder-Rede erregte Aufmerksamkeit und löste eine Vielzahl öffentlicher Reaktionen und Proteste aus. Um das Gesetz zum Schutz der Weiterarbeitenden, wie es im Alltag ironisch genannt wurde, entbrannte eine heftige öffentliche Diskussion.
Geheimes Rundschreiben Am 11. Dezember 1897 versendet der Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren Arthur Graf von Posadowsky-Wehner ein geheimes Rundschreiben an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten. Darin legt er den Adressaten nahe zu prüfen, ob gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit angezeigt sind, wörtlich: "In letzter Zeit ist in der Tagespresse und Fachliteratur wie in Vereinsversammlungen die Frage lebhaft erörtert worden, ob nicht angesichts der durch die Arbeiterbewegung der letzten Jahre gelieferten Erfahrungen von der Gesetzgebung ein erhöhter Schutz gegen Missbrauch der durch § 152 der Gewerbeordnung gewährleisteten Koalitionsfreiheit zu verlangen sei." Es sind in der Debatte mehrfach Bestimmungen als erforderlich bezeichnet worden, die bereits durch die verbündeten Regierungen im Jahr 1800 in den Entwurf der Gewerbe-Ordnungs-Novelle zur Verschärfung des Paragraphen 153 eingebracht, aber zum Teil aus Bedenken grundsätzlicher Art abgelehnt wurden. Posadowsky bittet weiter zu prüfen, ob arbeitswilligen Personen gegen Vergewaltigung und Einschüchterung seitens der Ausständigen kräftigerer Schutz als bisher gewährt werden kann. .... Der Verfasser des Rundschreibens bittet freundlich um Äußerung, damit beim nächsten Zusammentreffen im Reichstag eine neue Vorlage vorgestellt werden kann.
Veröffentlichung im "Vorwärts"
Den Sozialdemokraten gelang es, daß Rundschreiben in die Hände zu bekommen und am 15. Januar 1898 im Vorwärts (Berlin) zu veröffentlichen. Es war ein Knall zur rechten Zeit, der Protest und Widerstand gegen die Unterdrückungspolitik und jeden Versuch, die Dynamik der Sozialpolitik auszubremsen, ankündigte. "Eine gouvernementale Wahlmacherei plumper Sorte", schimpft am 9. Juni 1898 die Arbeiter-Zeitung aus Wien. Außerdem nennt sie den Schreiberling aus dem Reichsamt des Inneren einen "Agent des Junkertums in der Regierung". August Bebel erläutert am 19. Juni 1899 (2644) im Reichstag die Wirkung: "Aber meine Herren, wie dem auch sei, Sie irren sich gewaltig, wenn Sie glauben, uns, der Sozialdemokratie mit diesem Gesetzesentwurf im geringsten schaden zu können. Sobald dieser Gesetzesentwurf bekannt geworden ist, hat er in weitesten Kreisen die verschiedenartigsten Empfindugen hervorgerufen: Auf der einen Seite in der Unternehmerpresse, und einem großen Teil der Unternehmerklasse allgemeinen Jubel, aber auf der anderen Seite, und zwar, soweit es deutsche Arbeiter im Deutschen Reiche giebt, einen algemeinen Schrei des Zorns und der Entrüstung und eine Empörung ...." Das sozialdemokratische Zeitung für Salzburg vom 6. November 1899, befürchtet, dass durch das Zuchthausgesetz, die Geldsäcke der Großindustriellen leichter gefüllt werden sollen. Rosa Luxemburg (1871-1919) wirft Posadowsky in Sozialreform oder Revolution? (1899) vor, ein Attentat auf das allgemeine Reichstagswahlrecht begehen zu wollen. Friedrich Naumann (1866-1919) wendet sich 1899 in einem Vortrag gegen die Zuchthausvorlage. Felix Fechenbach (1894-1933) erkennt vierzig Jahre später in der Veröffentlichung des Geheimpapiers einen schweren "Schlag für die sozialpolitischen Rückschrittler."
Emanuel Wurm, 17. Januar 1898 Der SPD-Reichstagsabgeordnete Emanuel Wurm (1857-1920) attackiert Posadowsky am 17. Januar 1898 (459-462) im Plenum des Reichstages. Wir kennen das Programm des neuen Staatssekretärs [Posadowsky], es heißt:
Unter dem Vorwand der Ausschreitungen, sollen die "Arbeiter geknebelt" werden. "Sie [zu Posadowsky] haben außerdem jede Gelegenheit wahrgenommen, den Arbeiterkoalitionen das Leben so schwer wie möglich zu machen." Sie wollen "die
Streiks einschränken, das heißt, die gewerkschaftlichen Organisationen,
die Vereinigung der Arbeiter wehrlos machen" und "den Arbeitern
das Koalitionsrecht
rauben". Dazu soll der Paragraph § 153 der Gewerbeordnung verschärft
werden. Das Gesetz will das
Aufstellen von Posten verbieten. Die Zugänge sollen nicht überwacht werden dürfen. "Der Arbeiter soll also nicht mehr das Recht haben, seinem Kameraden zu sagen: - sei kein schlechter Mensch, sei kein Streikbrecher, falle uns nicht in den Rücken, tritt mit uns zusammen für unsere Kameraden ein! Nicht einmal das wollen Sie mehr dulden." Posadowsky (RT 17.1.1898), entgegnet: "Ich begreife nicht, weshalb sich der Abg. Wurm in solche Erregung hineinredet. Will er doch mit diesem Manifest in der Hand vor die Wähler treten. Da sollte er mir doch eher dankbar für den Erlaß sein. Ich wundre mich nur, daß ich nicht zum Ehrenmitglied der sozialdemokratischen Partei ernannt wurde. (Sehr gut! rechts. Ruf links. lächerlich.)" ".... ich lese ..... heute im "Vorwärts" einen Artikel, der vom Wahlkampf spricht und mit den Worten schließt:
Solche Redensarten lassen mich absolut kalt. (Bravo! rechts.) Wir haben keine Angst; wir wissen, was wir wollen, und wir werden unsere Maßregeln im Nothfalle auszuüben auch die Kraft haben. (Bravo! rechts. Heiterkeit links.)" "Wenn der Abgeordnete Wurm sagte, wir wollten die Koalitionsfreiheit der Arbeiter unterdrücken, so hätte er doch die Güte haben sollen" den Passus vorzulesen wo es heisst "bei der grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Koalitionsfreiheit (hört! hört! rechts)". Untersagt werden sollen jedoch unerlaubte Regeln und Handlungen, wozu die Anwendung von Paragraph 153 der Gewerbeordnung von 1890 zweckmäßig erscheint. Denn in Deutschland sollen keine englischen Verhältnisse einreißen. "Dort kommt es soweit, daß, wenn die Arbeiter einen Streik beschließen, ein Unternehmer gezwungen wird, den Arbeiter, der noch arbeiten will, zu entlassen, und daß dann entschieden wird, dieser Unternehmer habe unter solchen Verhältnissen einen berechtigten Grund gehabt, den Arbeiter zu entlassen. Dann ist allerdings nicht mehr der Fabrikbesitzer Eigenthümer seiner Fabrik, sondern die Fabrik wird hier thatsächlich ein Kollektiveigenthum der Arbeiter."
Reichstags-Debatte, 20. Januar 1898 "Eine Anzahl Forderungen, die Sie stellen," kommt am 20. Januar 1898 (547) Posadowsky dem Vertreter der SPD-Fraktion Emanuel Wurm entgegen, "sind sachlich durchaus berechtigt; Sie verlangen aber viel zu viel auf einmal. Kein Staat, keine Gesellschaft kann alle diese Forderungen, selbst, soweit Sie sie in berechtigtem Umfange stellen, auf einmal erfüllen; dazu fehlen schon die Organe, und manche der Forderungen können nur erfüllt werden mit der zunehmenden allgemeinen Kultur und mit der steigenden Wohlhabenheit des Landes."
Reichstagswahlen 1898 Im Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 mobilisiert die SPD weiter gegen die Zuchthaus-Vorlage.
Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale mußten Verluste hinnehmen. Die Sozialdemokraten wurden mit 2 Millionen Stimmen die stärkste Partei. Doch bedingt durch Besonderheiten der Wahlkreiseinteilung erhielten sie lediglich 56 Sitze, hinter dem Zentrum mit 102 Sitzen rangierend, der zweistärksten Partei. Kanzler Hohenlohe-Schillingsfürst stützt sich auf die Zustimmung des Zentrums. 1900 gelang es den Sozialdemokraten, Liberalen und Zentrum bei der Abstimmung zur Umsturzvorlage das Sonderstrafrecht gegen Arbeiter und Gewerkschafter zu verhindern.
Oeynhausener Trinkspruch, 6. September 1898 Während des Gastmahls am 6. September 1898 im Kurhaus Oeynhausen für die Provinz Westfalen bringt Wilhelm II. folgenden Trinkspruch aus: "Der Schutz der deutschen Arbeit, der Schutz Desjenigen, der arbeiten will, ist von Mir im vorigen Jahre in der Stadt Bielefeld feierlich versprochen worden. Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern in diesem Jahr zugehen, worin Jeder, er möge sein, wie er will, und heißen, wie er will, der einen deutschen Arbeiter, der willig wäre, feine Arbeit zu vollführen, daran zu hindern versucht oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll. Die Strafe habe Ich damals versprochen, und Ich hoffe, daß das Volk in seinen Vertretern zu mir stehen wird, um unsere nationale Arbeit in dieser Weise, soweit es möglich ist, zu schützen. Recht und Gesetz müssen und sollen geschützt werden . "
Die Oeynhausener-Rede, wie sie meist genannt wird, erneuerte die Drohungen gegen die Streikenden und verstärkte die repressive Tätigkeit bestimmter Staatsorgane gegen sie, worüber August Bebel am 15. Dezember 1898 (104) im Reichstag berichtet:
Im Juni 1899 protestieren Bürger und Arbeiter gegen die Zuchthausvorlage in Berlin und Leipzig. Am 8. Juni 1899 ruft die Leipziger Volkszeitung auf: "Zum Massen-Protest // fordert heraus // die Zuchthausvorlage. // Für Sonntag den 11. Juni lautet der Weckruf: // Auf nach Stötteritz! [in Leipzig] // Hoch das Koalitionsrecht der Arbeiter!" Jedermann war sich nach der ersten Lesung des Gesetzes vom 19. bis 22 Juni 1899 und zugehöriger Debatte im Reichstag darüber im Klaren, entsinnt sich Posadowsky am 11. Dezember 1900 (390), dass es nicht mehr angenommen würde. Interessant ist, wo er die Ursache dafür sucht: Indem die sozialdemokratische Presse immer wieder predigte, dieses Zuchthausgesetz soll jeden Arbeiter bestrafen, der es wagt zu streiken, und verschwieg, dass nur derjenige bestraft werden sollte, der ungesetzliche Mittel gegen die Arbeitswilligen anwendet, und das sich dieses Gesetz ebenso gegen den Terrorismus der Arbeitgeber richtete. Weiter beruhen die Paragraphen des Gesetzesentwurfs, argumentiert Posadowsky, auf dem Grundsatz der Gleichheit und lauten: "Das Recht jeden einzelnen Arbeiters, der arbeiten will, gilt ebenso viel wie das der übrigen Arbeiter, welche nicht arbeiten wollen." (389) Weil man diese Tatsachen verschwiegen hat, bricht es aus ihm heraus,
Entgegen diesem Anliegen interpretierte die sozialdemokratische Presse Teile des Gesetzesentwurfs zum Schutz der Arbeitswilligen einseitig und propagierte: er war nicht zum Besten der Arbeiter, er war zum Besten der Arbeitgeber, was sein Anliegen entstellte und desavouierte. So gelang es der 12 000-Mark-Kampagne die öffentliche Wahrnehmung dahingehend zu verschieben, dass es nun hieß, es war ein Gesetzesentwurf allein zugunsten der Unternehmer, und man erbat dazu von ihnen einen Beitrag für die Agitation.
Streit um das Koalitionsrecht Der Schlüssel zum Verständnis der Ambitionen und Ziele von Staatssekretär Graf von Posadowsky in der Zuchthaus-Affäre ist zweifellos seine Haltung zur Koalitionsfrage. "Die Scharfmacher", mahnt 1914 Wolfgang Heine (1861-1944) in Schutz dem Koalitionsrecht, "wollen die freien Organisationen überhaupt unterdrücken." War Posadowsky ein Scharfmacher? Nein - so versteht er sich nicht. Freilich, seiner Selbstdefinition muß im Konfliktfall nicht unbedingt das letzte Wort gehören. Aber außer Acht lassen, soll man sie nicht. In der Reichstagsdebatte am 17. Januar 1898 bestreitet er, dass sein Anliegen "gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter" gerichtet ist. Den "Vorwärts" (Berlin) lässt das kalt. Unbeirrt erhebt er weiter den Unterdrückungs-Vorwurf, obwohl doch sogar im Geheimbrief vom 11. Dezember 1897 die Formulierung
lautete. Im November 1904 Begann in Bochum auf der Zeche Bruchstraße von Hugo Stinnes der große Streik der Bergarbeiter. Im Januar schlossen sich ihm 50 000 Arbeiter an. "Wo stehen wir im Streik der Bergleute?" fragt Eugen Katz am 29. Januar 1905 und antwortet: Es kommt nicht auf eine bloße papierne Befugnis an. Was sollten die nützen, wenn die Unternehmer diese durch ihre Machtentfaltung hintertreiben und versuchen die Arbeiterorganisationen auszuschalten?
Die wichtigste Frage der gesamten Sozialpolitik heißt deshalb, soll das Arbeitsverhältnis auf eine
gestellt werden? In den Streiks konkurriert also das Prinzip des sozialpolitischen Absolutismus mit dem des sozialpolitischen Konstitutionalismus. - Posadowsky war für die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Unternehmer und ArbeiterInnen, also gegen ein absolutistisch verfasstes Arbeitsverhältnis.
Erste Lesung 19. Juni 1899
"Wir denken gar nicht daran, die berechtigte Koalitionsfreiheit des deutschen Arbeiters aufzuheben oder auch nur zu beschränken. Im Gegenteil, ich persönlich bin der Ansicht, daß diese Koalitionsfreiheit in gewissem Maße im wirtschaftlichen Interesse aufrecht erhalten muß." Die Textstelle im Brief vom 11. Dezember 1897 zum "Terrorismus der Ausständigen", expliziert er weiter, ist nichts als die wörtliche Übernahme einer Stelle aus der Petition, die der deutsche Innungsverband an den Bundesrath und den Reichskanzler gerichtet hat. Anschließend erklärt er (RT 17.1.1898) sein moralisch-politischen Standpunkt:
Nun informiert er das Plenum über entsprechende Vorkommnisse zwischen den Ausständigen und Arbeitswilligen. Zum Beispiel als am 1. November 1897 der Streik im pommerschen Torgelow ausbrach, drangen von dort über den Ablauf verschiedene Nachricht in die Öffentlichkeit. Einige Berichte befassten sich mit Gewalttätigkeiten und Drohungen gegenüber den Arbeitswilligen. Man kann den Streikenden nicht übelnehmen, kolportierte der Meinungsstrom, dass man ihnen nicht freundlich gegenübersteht. Unter Bezugnahme auf einen Fall, hieß es, "der Mann wäre wahrscheinlich am Schlage verstorben." Einige Arbeiter wenden sich mit einem Brief über die Zustände an Graf von Posadowsky und schildern darin, dass sie am Abend des 10. Januar (1898) auf dem Heimweg von Ausständigen überfallen wurden. Ihre Angreifer traten einheitlich geleitet und organisiert auf. Ungefähr 60 an der Zahl. Auf Zeichen des Anführers starteten sie die Überfälle. In einer anderen Gegend, fort von Aschersleben, führten zwanzig Streikende auf dem Weg den Überfall aus. Ähnlich trug es sich bei Stollberg in Harz zu. Erst ein Arbeiter, dann zwei und zuletzt vier, wurden mit starken Knüppel misshandelt, wobei einer mit dem Namen "Arndt" erschlagen wurde. Also, korrigiert Posadowsky die Nachricht des SPD-Abgeordneten Paul Singer (1844-1911):
Ablehnung, 20. November 1899 "Meine Herren, bei der Situation, die sich heute in diesem Saale entwickelt hat," erwärtm der SPD-Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine (1861-1944) vorsichtig die Stimmung, "glauben meine politischen Freunde und ich, dass wir unsere Pflicht verletzen würden, wenn wir hier noch lange Worte machten (Sehr richtig! links)" (Vorwärts 20.11.1899) Der Reichstag lehnt am 20. November 1899 den
ohne Kommissionsberatung ab. Posadowsky sah zu diesem Zeitpunkt längst das Scheitern, wie er 1919 glaubhaft versichert, des Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse voraus. Trotzdem legte er sich damals in der Debatte so fest:
Er behauptete, dass mit diesem Gesetzesentwurf nicht nur die Arbeitswilligen gegen den Terrorismus der Streikenden, sondern auch die Arbeiter gegen den Terrorismus der Unternehmer geschützt werden, worauf am 12. Dezember 1900 August Bebel antwortet: "In den Fabriken und gewerblichen Etablissements des Zentralverbandes der Großindustriellen ist eine Arbeiterorganisation, die Zwecke verfolgt, welche den Unternehmern nicht genehm sind, einfach unmöglich. (Hört! hört! Links) Jeder Arbeiter der es wagt, eine politische Gesinnung zu vertreten - und davon sind nicht allein die sozialdemokratischen Arbeiter betroffen, sondern auch freisinnige und Zentrumsarbeiter betroffen worden. Ich erinnere nur an die Handlungsweise der Fabriken von Krupp -, die den Unternehmern nicht paßt, fliegt hinaus." (RT 12.12.1900, 482) Retrospektiv entsteht die Frage, warum sah Posadowsky das Ergebnis eigentlich voraus? Vielleicht deshalb, weil die Reichsleitung beschlossen, das Gesetz, um das Flottengesetz nicht zu gefährden, fallen zu lassen? All sein lamentieren und schluchzen verlief im Nichts. Mehr oder weniger ein Proformauftritt. Trotzdem waren Auswirkungen der Zurückweisung des Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse vielfältig. [a] Derweil verschlechterte sich immer mehr die Stimmung des Kaisers gegenüber dem Parlament und den Parteien. Er dachte daran, die Dinge in der Weise auszufechten, den Reichstag mehrmals hintereinander aufzulösen und anschließend das Wahlrecht zu ändern. (W. J. Mommsen 2005, 83) Praktisch würde dies in einen Staatsstreich münden. Posadowsky scheiterte
und vollzog nach kurzer Zeit einen Richtungswechsel. Er sucht jetzt in
sozialen Fragen mit der SPD und Arbeiterbewegung ehr den Ausgleich. Tut
er das wirklich, möchte man Joachim Bahlcke fragen, der dies 2006
formulierte. Denn ob dies der sozialistischen Opposition wirklich nutzt,
scheint nicht völlig klar. Bekanntlich erwarten der Kaiser, die Reichsleitung
und bürgerlichen Parteien von ihm Kampf gegen die Sozialdemokratie
Und wenn er ihren Ewartungen nicht entspricht, was passiert dann? Schützt ihn seine Reputation als Sozial-, Arbeitsschutz- und Handelspolitiker? Droht ihn die Relegation! Infolgedessen verliert das parlamentarische System der offenen und versteckten Kollaboration seine Stabilität und der Reichstag stürzt in eine Krise. [b] Die Zuchthausvorlage war gescheitert. Es war ein Erfolg der Sozialdemokratie und fortschrittlich-bürgerlichen Oppositionellen. A b e r e s w a r k e i n S i e g ! Besonders im größten Land Deutschlands, in Preußen, setzt sich nach Ablehnung der Zuchthausvorlage am 20. November 1899 durch den Reichstag der politische Kampf mittels der staatlichen Rechtspflege bis in die nächsten Jahrzehnte fort. "Nachdem der Deutsche Reichstag für die Bestrafung des Organisationszwanges, des Streikpostenstehens und des Kontraktbruches im Wege des Gesetzes zum Schutz der Arbeitsfreiheit (Zuchthausvorlage) nicht zu haben war, wies der preußische Justizminister die ihm unterstellten Behörden an, die Rechtsprechung nach dieser Richtung hin zu beeinflussen, um dem Reichsgericht Gelegenheit zu geben, diesbezügliche Rechtsnormen aufzustellen. Dazu apportiert der preußische Landtag fortwährend Anträge, die eine gesetzliche Bestrafung des Streikpostenstehens, des Kontraktbruches, der Behinderung Arbeitswilliger usw. verlangen, ebenso ein gesetzliches Einschreiten gegen die Sozialdemokratie, wodurch die Gewerkschaften getroffen werden sollen. Daß diese Materien formell zum Gebiete der Reichsgesetzgebung gehören, jeder Eingriff in dieselbe also nur im Wege des Verfassungsbruches möglich ist, stört die dort wortführenden Junker sehr wenig." (Correspondenzblatt 27. Januar 1906) [c] Wolfgang Heine (739f. und 741) gelangt 1914 zur Erkenntnis, dass das Koalitionsprinzip nicht von den Arbeitern, wie Reichskanzler von Bethmann Hollweg es unlängst darstellte, bereits in gefährlicher Weise überspannt wird, sondern es noch immer prekär ausgestaltet ist. Es gab die sozialdemokratischen Versuche, etwa mit der Reichstagsresolution 1285,
Seit aber Staatssekretär Doktor Clemens von Delbrück (1856-1920) am 10. Dezember 1912 im Reichstag diese verfassungs- und naturrechtliche Grundlage des Koalitionsrechts bestritten hat, ist es notwendig sie durch ausdrücklichen Akt der Gesetzgebung zu proklamieren.
Zwölftausendmark-Affäre zurück 1899 erhält das Reichsamt des Inneren vom Centralverband deutscher Industrieller (CdI) Propaganda-Geld. Begonnen hatte es mit einer Anfrage von Ministerialdirektor Erich v. Woedtke (1847-1902) vom Reichsamt des Inneren an den Geschäftsführer des CdI Henry Axel Bueck (1830-1916), ob sie die Finanzierung von Agitationsschriften gegen die Sozialdemokratie unterstützen könnten. Der übermittelt das Anliegen an den Geheimen Finanzrat und stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralverbandes Jenke, der nach Prüfung empfahl, das Verlangen nicht zurückzuweisen. Am 22. Oktober 1900 veröffentlicht die Leipziger Volkszeitung die Niederschrift des Geschäftsführers des CdI vom 3. August 1898. Danach spendete die Industriellen 12 000 Mark zur Agitation für den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse. Alles flog auf, als ein Archivar vom Geschäftsführer Bueck heimlich die zugehörige Korrespondenz an den "Vorwärts" (Berlin) weiterleitete. Wir sagen "Archivar". Zunächst war das durchaus nicht klar. Vielmehr konnte man annehmen, Bueck selber habe den Brief dem "Vorwärts" zugeleitet, um Posadowsky zu kompromittieren. Andere Erkenntnisse legen nahe, dass Bueck in dieser Angelegenheit höchstpersönlich von Johannes von Miquel dazu veranlasst wurde. Die Freie Presse in Wien unkt am 25. Oktober 1900, dass Posadowsky "mit dem Verlust seines hohen Postens büßen" muss. Wird er dafür bezahlen müssen? Ausgelöst war diese Reaktion wahrscheinlich durch die Information über die Drucksache Nr. 21 des Deutschen Reichstages. Es handelt sich dabei um die Interpellation der Abgeordneten Albrecht und Genossen vom 24. November 1900 zur 7. Sitzung des Deutschen Reichstages und lautete: "Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler gegen die Beamten des Reichsamtes des Inneren zu ergreifen, welches von einer Interessengruppe, dem Zentralverbande deutscher Industrieller, die Summe von zwölftausend Mark gefordert und erhalten hat, um damit die Agitation für den vom Bundesrath dem Reichstage am 26. Mai 1899 vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses zu betreiben." Den entscheidenden Vorstoß gegen die Angriffe von der Opposition unternimmt in dieser Sitzung Bernhard von Bülow, indem er seinem Staatssekretär das Vertrauen ausspricht:
Doch es ist bei Weiten nicht nur ein Vertrauensbeweis. Bülow gibt klar zu verstehen, dass sich dies nicht wiederholen darf. Ihn stört vor allem das Erscheinungsbild, den dieser Bettelbrief in der Öffentlichkeit hinterlässt, was allen guten Traditionen des deutschen Beamtentums zuwiderläuft. "Über die Sache selbst mich zu äußern," reagiert Posadowsky 11. Dezember 1900 im Reichstag, "habe ich keine Veranlassung. Ich lehne es ab". "Aus diesem Schweigen," hält ihn daraufhin August Bebel, es war immer noch die Etatsberatung, "darf ich mir aber schließen erlauben, dass der Vorgang, d.h. die Forderung der 12 000 Mark, nicht nur im vollen Einverständnis mit ihm, sondern wahrscheinlicher weise auf seine eigene Veranlassung hin geschehen ist." Posadowsky (RT 11.12.1900, 388) eilt an das Rednerpult: "Ich glaube, wer mich in meinem Privatleben und im öffentlichen Leben kennt, der weiß, dass ich Furcht nicht kenne (Bravo! - Zurufe links), und daß ich der letzte bin, der irgendeine Verantwortlichkeit von sich ablehnt und den Kampf mit der Partei scheut, die mir heute gegenübersteht. (Lebhaftes Bravo. - Oh! Oh! bei den Sozialdemokraten.)" Er wirkt angeschlagen. Er dankt dem Vorredner, August Bebel, für die Wiederaufnahme der Debatte die partie remise, um dann anzufügen:
Am Schreiben selbst moniert am 13. Januar 1901, als alles aufgeflogen war, der Vorwärts, kann "er nichts Unkorrektes, nichts Unrichtiges" finden. "Die jetzige Erklärung des Grafen Posadowsky", heizt der Vorwärts (Berlin) am 12. Dezember 1900 die Stimmungan, "beweist die reuelose Verstocktheit der Schuldigen. Im Ressort des Grafen Posadowsky fehlt das Gefühl der Unwürdigkeit, dessen, was gethan wurde." - "Reuelose Verstocktheit?", wo er doch übersichtlich darlegte: "Der Beitrag, den der Zentralverband der Industriellen gleistet hat, der von ihm erbeten ist zur Vertretung des Gesetzesentwurfs in der Öffentlichkeit, ist verwendet worden, um Ausgaben zu decken, welche entstanden für die Verbreitung lediglich amtlichen Materials, welches bereits seit Wochen und Monate dem Reichstag vorlag ...." (Posa 11.12.1900, 431)
Am 12. Januar 1901 sorgt der SPD-Abgeordnete Fischer in der Samstagnachmittagssitzung des Deutschen Reichstags mit der Feststellung: "Das Reichsamt des Inneren ist eben nichts andres als eine Filiale des Centralverbandes" [deutscher Industrieller] für viel Aufregung. Das Kesseltreiben gegen Grafen Posadowsky, meldet das Grazer Volksblatt am 15. Januar 1901, hält an. Als die Zwölftausendmark-Affäre akut, will Posadowsky von einer Abhängigkeit vom CdI nichts wissen, weil er ahnte, dass die Öffentlichkeit dies nicht goutieren würde. Denn was geschehen, dies widerspricht nach vorherrschender Anschauungsweise den alten tradierten Vorstellungen von der Unabhängigkeit des deutschen Beamtentums. Geschickt greift am 12. Januar 1901 der SPD-Abgeordnete Richard Fischer die Zwölftausendmark-Affäre auf und agitiert: "Wenn nicht Herr v. Woedtke der Urheber des Briefes ist, wie ist es zu erklären, daß v. Woedtke als Opferlamm für den Bueckbrief sein mußte, insofern als er heute nicht mehr hier als Vertreter der verbündeten Regierungen funktioniert? Ist er unschuldig, so ist dies eine schreiende Ungerechtigkeit, die mir als Stück jener Moral erscheint, die die kleinen Diebe hängt, die großen laufen läßt. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Wenn aber diese Darstellung der "Frankfurter Zeitung" nicht richtig sein sollte, wenn wirklich Herr von Woedtke der Urheber des Bettels ist, so hat doch andererseits Graf Posadowsky erklärt, daß er nicht Unkorrektes, nicht Unrichtiges an diesem Schreiben finden könne. Auch dann ist es unverständlich, daß trotzdem Herrn von Woedtke jetzt die Pforten zum Bundesratstisch verschlossen sind."
"Ich habe niemals danach gestrebt, an dieser Stelle zu stehen, dass weiß jeder der mich kennt, aber ich werde an dieser Stelle stehen, so lange ich das Vertrauen meines Monarchen besitze, so lange ich es für politisch zulässig halte und solange meine körperliche und geistige Widerstandskraft gegenüber solchen Angriffen ausreicht." (Kesseltreiben 15.1.1901) Im Verlauf der Affäre distanziert er sich öffentlich von seinem Ministerialdirektor, der bald darauf zum Direktor des neugeschaffenen Reichsaufsichtsamtes für das Versicherungswesen demissioniert. Die SPD will die Aufklärung der Zwölftausendmark-Affäre, ohne ihn aber zu stürzen. "Es liegt uns ganz fern, den Grafen Posadowsky von seinem Platze zu bringen. Je länger er an seinem Platze bleibt, desto lieber ist es uns," bekundet der Abgeordnete Richard Fischer am 12. Januar 1901 im Reichstag, "desto mehr liegt es im Interesse unsrer Sache. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)" Die Zwölftausendmark-Affäre ermöglichte neue Einblicke in die Phalanx von Industrie, CdI und Staat (Reichsamt des Inneren).
Im Laufe der Zeit kommt die Frage nach dem Verhältnis von Behörden, Industrie, (Unternehmer-) Verbänden und staatlicher Sozialpolitik immer wieder hoch. Zum Beispiel in der
Als Posadowsky behauptet,
dass die Staatssekretäre früher vollständig losgelöst
vom Einfluss der mächtigen industriellen Verbände tätig
waren, treibt dies den SPD-Reichstagsabgeordneten Arthur Stadthagen (1857-1917)
mit den Sätzen auf die Barrikade: "Wir sehen das Gegenteil.
"Da war der Staatssekretär Boetticher: "Meine Herren wir
arbeiten ja nur für sie." Ich erinnere an das Staatssekretariat
des Herren Grafen v. Posadowsky selbst, einmal an die Zuchthausvorlage,
und dann auch an die Tatsache, dass 1897 die Unfallgesetzvorlage, wie
sie aus der Kommission herauskam, keine Gnade fand vor den Augen des mächtigen
Verbandes der Industriellen und darum in der Versenkung verschwand.
.
Ich gehe nicht auf die weiteren Nachteile ein, die sie den Arbeitern gebracht
hat." Weiter kam an diesem Tag im Plenum die Frage auf, wie mehr erreicht kann: a) wenn die Sozialpolitik als selbständiges Amt geführt wird oder b) ob es zusammen mit großen wirtschaftlichen Verbänden untergebracht und zusammenarbeiten sollte. Dem Reichamt des Inneren waren durch den Krieg viele Aufgaben zugewachsen, was zu seiner Überlastung führte. Ist eine Teilung des Amtes nötig, fragt Posadowsky. Weder Delbrück, noch Bethmann Hollweg oder der jetzige Staatssekretär befürworteten dies. Möglicherweise wäre es sinnvoll, die Institution als eine rechtssprechende Behörde dem Reichsamt für Jusitz zuzuordnen. Ebenso könnte eine Entlastung durch Schaffung eines Staatssekretärs für öffentliche Arbeiten erfolgen. "Die Herren von der Sozialdemokratie, die ein besonderes Reichsarbeitsamt schaffen wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, dass sie sich vielleicht in den Erwartungen irren. Meine Herren, ich habe wirklich ein sozialpolitisches Herz, aber, ich glaube, sie täuschen sich darin, wenn sie durch Schaffung eines besonderen sozialpolitischen Amts die Sozialpolitik wirksam fördern zu glauben. Ich glaube, gerade das Gegenteil wird eintreten." Hierzu projiziert er gedanklich die einzelnen Abläufe des Amtes und stellt ihre Verbindung zu den preußischen Ministerien her, deren Zustimmung es einholen muss, zu den Kommissaren und den fraglos endlosen Kommissionssitzungen, wo besonders die entgegengesetzten Ansichten zu bekämpfen sind. (RT 5.10.1917, 3698) Posadowsky vertrat die Ansicht, dass Reichsarbeitsamt dürfe vom Wirtschaftsamt und dem Amt für Handel nicht getrennt werden, weil dies die sozialpolitische Macht schwächt. Daran reibt sich der SPD-Reichstagsabgeordnete Arthur Stadthagen (1857-1917): "Meine Herren, ich bin gerade entgegengesetzter Ansicht. So lange Sozialpolitik und Wirtschaft in einer Hand liegen, wird aus der Sozialpolitik nichts." "Ich glaube, ein selbständiges Amt kann mehr leisten, als ein Amt, das in Verbindung wirtschaftspolitischen und handelspolitischen Aufgaben gebracht wird." (RT 5.10.1917, 3707)
Posadowsky-Statistik zurück Die gezielte und sozialökonomisch wirksame Realisierung des Ersten Hauptsatzes der Sozialpolitik erfordert eine aussagekräftige Sozialstatistik, nicht in Art Ludendorff`scher Kriegsberichterstattung, sondern als Widerspieglung von epidemiologischen Entwicklungstendenzen der Gesundheitslage, Sicherung der Ernährung und Wohnungslage. Als Posadowsky über den Bundesratsbeschluß vom 10. Juni 1898 veranlasst, eine Statistik über die Ausstände und Aussperrungen zu führen, nehmen dies die Sozialdemokraten um die Leipziger Volkszeitung mit Chefredakteur Bruno Schönlank (1859-1901) skeptisch auf. Am 9. Dezember 1898 titelt ihr Blatt auf der ersten Seite:
Sie fürchten ein Déjà-vu Erlebnis mit der "Zeit der Sozialreaktion von oben" und den "Unterdrückungsvorlagen". "Büttel, Gefängnis, Polizeischikane und Massregelung drohen hinter diesen Erhebungen." "Besonders verdächtig erschien ihnen die Ermittlung und Registrierung der "Zahl der Minderjährigen", die "Kontraktbrüchigen", "polizeilichen Massnahmen" und das "staatsanwaltschaftliche Einschreiten". "Immer deutlich zeigt sich in den Bestimmungen der Pferdefuß des rücksichtslosen Arbeitertrutzes, der Scharfmacherei . " Die Daten können zur Bekämpfung der verhassten gewerkschaftlichen und proletarischen Massenbewegung herangezogen werden und negative Auswirkungen auf das Koalitionsrecht haben. "Immer deutlicher zeigt sich in den Bestimmungen der Pferdefuß des rücksichtslosen Arbeitertrutzes, der Scharfmacherei ...." "Unsere anfängliche Auffassung über die Streikstatistik des Grafen Posadowsky hat sich bestätigt." Unbenommen der kritischen
Prüfung von Zweck und Verwendung der erhobenen sozialen Daten, wäre
es der Sache gut bekommen, wenn man die Vorteile für Verwaltung und
das Anliegen vom Standpunkt der fachlich qualifizierten Führung von
Prozessen durch das Staatssekretariat ebenso herausgestellt hätte.
Posadowsky strebt in seiner Behörde die Nutzung neue Erkenntnisse der Wissenschaft an, um die Wirkung der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung zu verbessern. Er fragt: "Haben wir nicht auf Anregung aus Arbeiterkreisen heraus Umfragen gehalten über die Lage der Handlungsgehilfen, über die der Bäcker und Müller, über die Milzbrandgefahr in Pinsel- und Roßhaarfabriken, über die Konfektionsbranche? Oder haben etwa die Unternehmer diese Erhebungen angeregt? Nein, die Arbeiter! Und wir haben den berechtigten Wünschen der Arbeiter bezüglich der Feststellung jener Verhältnisse Rechnung getragen." (28.1.1898) Bei den Gewerkschaften und der SPD bestand ebenso ein starkes Bedürfnis nach einer aussagestarken Streikstatistik.
Als Verwandlungskünstler zurück
Nicht immer war es leicht seiner politischen Rhetorik zu folgen. Mitunter beugte er die politischen Gedanken unter die taktischen Erfordernissen der politischen Kommunikation. Dann kam der Moment für den Auftritt des Verwandlungskünstlers Posadowsky. Es war am 25. Februar 1905. Als Bühne bot sich ihm zum Beispiel ein Treffen von Reichstagsabgeordneten, das man heute vielleicht als Pressekonferenz bezeichnen würde. Als Mitwirkende registriert der "Vorwärts" (Berlin) die Kollegen Reichstagsabgeordneten Hans von Kanitz (1841-1913) von der Deutsch Konservativen Partei (DKP) und Ludwig von Reventlow (1864-1906) von der Deutschsozialen Partei (DSP). Unterstützt durch Carl Herold (1848-1931) vom Zentrum, ereiferten sie sich über die Unzulänglichkeit der Handelsverträge. "Die vierzehntägige Aufführung der handelspolitischen Komödie Im Profistreben vereint" schloß dann in den Festsälen des Wallotbräus mit einem heiteren Knalleffekt. Zunächst als ein tragisches Rührstück angelegt, gestaltete es sich mit jedem Fortschritt, immer komischer und sollte schließlich "in einem Faschingsscherz" enden. Ihn vorzutragen, gab sich der Staatssekretär vom Reichsamt des Inneren die Ehre. Er "....forderte in der Rolle eines Anti-Posa als Gegengewicht gegen das Streben der unteren Schichten nach Verbesserung ihrer Lebenslage und den dadurch bewirkten heftigen Gang der Gesetzgebungsmaschine die Stärkung des politischen Einflusses der Landwirtschaft, das heißt der junkerlichen Position, die er als "festen Anker unseres Staates" bezeichnete." (Vorwärts 26.2.1905)
Der kluge Hans und der blöde Michel zurück Neue Wege der Steuerung der öffentlichen Meinung kündigen sich 1902 mit der Affäre um den klugen Hans an. Psychologen, Ärzte, Physiologen, Zoologen, Psychiater und Veterinärmediziner zieht es in den Norden von Berlin, wo der Stall des denkenden Pferdes steht. Es gehörte dem einstigen Oberlehrer Herrn Wilhelm von Osten (1838-1909), der von seinen didaktischen Fähigkeiten restlos überzeugt. Der kluge Hans kann Gedanken lesen, den Namen des Besuchers erraten und die Resultate seiner Operationen durch Fußtritte mitteilen. Obwohl er sie bloß gehört hatte, schrieb er sogar die Namen Bethmann Hollweg, Plüskow oder Slytzow orthographische richtig. Aus der Gaukelei um das denkende Pferd könnten allmählich fatale Konsequenzen erwachsen. Was, wenn die Gutachten aus der Psychologischen Fakultät zur Feststellung von Schwachsinn und Unterbringung in der Irrenanstalt mit derselben Akribie verfasst sind, wie die professoralen Gutachten über das denkende Pferd? Dann könnte sich die Roßkomödie zu einer unsterblichen Blamage für das psychologische Deutschland auswachsen. Ab dem 2. September 1904 wird das Tier niemanden mehr gezeigt. Die gewünschte wissenschaftliche Kommission mit auserwählten Fachgelehrten nimmt ihre Arbeit auf. Horst Gundlach arbeitete die Geschichte auf und veröffentlicht sie 2006 in der "Psychologischen Rundschau". Es stellte sich heraus, dass das berühmte Buch des deutschen Psychologen Oskar Pfungst (1874-1932) Das Pferd des Herrn von Osten, Der Kluge Hans (1907), einen bisher nicht erkannten Zweck verfolgte, nämlich zu verbergen, dass Carl Stumpf (1848-1936) lange Zeit höhere geistige Gaben des Pferdes annahm. Das Mitglied der Preußischen Akademie Wissenschaften und Philosophie-Professor war eingesetzt, um der Erscheinung auf den Grund zu gehen. Doch nicht diesem Wissenschaftsskandal, worauf eingangs bereits hingewiesen, gilt hier die Aufmerksamkeit.
Was sonst ist daran so Interessantes? Das denkende Pferd setzte Deutschlands Öffentlichkeit in Erstaunen und Erregung. Die einen erlagen der Suggestibilität des Phänomens, andere der Spekulation. Insgesamt war es beängstigend, wie sich eine Nation der kollektiven Halluzination und dem Okkultismus hingeben konnte. Bis dann eines Tages sein Wärter, im Zustand der Verwirrung ausplauderte, dass der fünfjährige Orlow-Traber nur das nachmache, was er ihm durch eine geheime Zeichensprache signalisiert. "Der kluge Hans", teilt im August 1904 der Stallbursche der Berliner "Morgenpost" mit, "bin eigentlich ich. Wenn ich die Augen niederschlage tu´, dann trampelt das Vieh so lange, bis ich die Augen wieder aufhebe." Trotz dieser peinlichen Indiskretion muss das Pferd den Forschern, hauptsächlich Psychologen, täglich Geistesproben seines Könnens darbieten. Gestern, am 23. August 1904 berichtet der Vorwärts (Berlin), buchstabierte Hans die Namen der anwesenden zwei Herren aus des Kaisers nächster Umgebung, Generaladjutant Graf Moltke und Flügeladjutant von Plüskow. Der Kluge-Hans-Effekt eröffnet Einsichten in die Selbst- und Fremdverhaltenssteuerung von Personen und großen amorphen Menschengruppen. Neigt das handelnde Subjekt zu Okkultismus und Selbsttäuschung, quillt daraus eine verheerende Vorahnung: Auf dem Weg durch die Geschichte erwarten uns unkalkulierbare Risiken und irrationale Kettenreaktionen.
Wir
sind auf Dauer nicht im Stande, Der deutsche Kinematiker und Maschinenbauer Franz Reuleaux (1829-1905) war mit seinem Fachwissen als Preisrichter auf vielen internationalen Ausstellungen gefragt. Von der Weltausstellung aus Philadelphia berichtet er 1876, dass die deutschen Produkte billig und schlecht. Industriepolitisch erregte dies viel Aufregung. Tatsächlich waren viele Branchen der deutschen Industrie durch die überlegene englische Konkurrenz in ihrer Existenz bedroht. Was konnte oder mußte man dagegen von staatlicher Seite tun? Mit 217 gegen 117 Stimmen faßte der Reichstag am 12. Juli 1879 den Beschluß zur Einführung von "Schutzzöllen" und eines "Zolltarifgesetzes" (15. Juli 1879). Damit war ein Versprechen aus der letzten Thronrede des Kaisiers erfüllt. Unter den Gegnern der Vorlagen rangierten, neben der gesamten Fortschrittspartei, alle Diejenigen, also Polen, Welfen und Sozialdemokraten, "deren staatsfeindliche Tendenzen bei jeder Gelegenheit unverhüllt zu Tage treten." (NAZ 14.7.1879) Auf der Spurensuche nach Anhaltspunkten zur Erklärung der gesellschaftlichen Moralbildung ist das nicht ganz unwichtig, härtet doch hier bereits die gesellschaftliche Stimmung aus: Gegner des Zolls sind Staatsfeinde. Im Zuge der Zollpolitikreform unter Führung von Graf von Posadowsky dynamisiert diese Mentalität zwanzig Jahre später wieder das gesellschaftliche Kräfteparallelogramm. Was ist besser, Freihandel oder Protektionismus? So einfach ist das nicht, erklärt am 10. Dezember 1891 (3302) Kanzler Leo von Caprivi dem Reichstag und gibt eine kurze Einführung zur Lage des deutschen Aussenhandels: Der Import von Waren beträgt 4 000 Millionen und der Export 3 000 Millionen Mark. Das Exportdefizit von 1000 Millionen Mark setzt er in seiner Rechnung auf 800 Millionen Mark fest und rechnet mit diesem Betrag weiter. Zum Teil werden mit den Importen unentbehrliche Nahrungsmittel eingekauft. Beispielsweise mußte, um den Bedarf der Bevölkerung an Schweineschmalz zu decken, 1897 ein Sechstel, 1898 dann etwas mehr als einen Fünftel aus dem Ausland eingeführt werden (Posa RT, 12.12.1906). Dies bringt uns, fährt der Reichskanzler fort, mit der Handelsbilanz in Verlegenheit, denn es kommt zum Vorschein: "Wir sind auf Dauer nicht im Stande, das zu bezahlen, was wir brauchen, um zu leben und um unsere Industrie in schwunghaftem Betrieb zu halten." Deshalb erscheint es sehr zweifelhaft, ob wir auf den eingeschlagenen Weg fortfahren können. Doch es besteht die
Hoffnung durch "die Steigerung der deutschen Fabrikation", "erfolgreich
die Einfuhr fremder abzuhalten". Dies erfordert die Warenausfuhr
unbedingt zu steigern. Wir werden ohnehin "einen großen Teil
unserer Fabrikate ausführen" müssen, versteift diese Erkenntnis
Posadowsky am 9. Februar 1900 im Reichstag (295), "wenn
wir überhaupt unsere Industrie auf der gegenwärtigen Höhe
halten wollen", um den "erheblich steigenden einheimischen
Konsums" zu gewährleisten. Nur der wirtschaftspolitische Weg
war doch ein ganz anderer als ihn seinerzeit Caprivi eingeschlagen, der
durch starke Senkung der deutschen Einfuhrzölle auf Getreide die
Ausfuhr aus Belgien (1891), Serbien, Rumanien, Schweiz (1892/93) und Rußland
(1893(94) nach Deutschland erleichterte. Das lag im Interesse der Industriekapitalisten,
senkte es doch die Wertsubstanz der Arbeitskraft und verbesserte die Konkurrenzfähigkeit
der deutschen Wirtschaft. Es stieß natürlich auf Ablehnung
und Protest bei den Agrariern. 1897 erhielten sie die Zusage, dass die
Einfuhrzölle für Agrarprodukte erhöht werden Als 1899 der
Umschwung in der agrarischen Handelspolitik überdeutlich (siehe Posa,
RT 13.12.1899), lästerte am 14. Dezember 1899 der Vorwärts
(Berlin), nun muss noch die chinesische Mauer gebaut werden, wo die
Agrarier auf Kosten des Volkes ungestört den Brotwucher treiben können.
Der Handelspolitiker zurück Die Krisen des Kapitalismus brachten den Niedergang des Manchestertums, zerstörtem den Glauben an den Freihandel und die Segnungen der freien Konkurrenz. An die Stelle trat das Monopol nach innen, der Schutzzoll und der feste Unternehmerverband nach außen. (Kautsky 1900, 492) Eine neue Epoche der Wirtschaft bricht an. Graf von Posadowsky übernimmt im Sommer 1897 das Reichsamt des Innern. Sofort beginnen die Vorbereitungen für eine umfassende Revision der Außenhandelsaufschläge. Zum Ende steht am 25. Dezember 1902 die Verabschiedung des Zolltarifs und Zolltarifgesetzes. Selbst etwas überrascht, teilte leicht verdattert am 3. Juli 1897 die Berliner Zeitung mit: Es war Posadowsky, "der zum allgemeinen Staunen vom Tisch des Bundesrates herab die Politik der Handelsverträge als revisionsbedürftig hinstellte...." Ihre Wirksamkeit steht schon etwas länger in Frage, da sie zum Teil vom 26. Januar 1892 stammen. Nach seiner Einschätzung sind sie in der vorliegenden Form zur Führung der bevorstehenden handelspolitischen Verhandlungen als taktisches Instrument ungeeignet. Dieser Einsicht bemächtigte sich der neue Staatssekretär erstmals im Verlauf der Beratungen zum Import eines überseeischen Gerbstoffs, im Kontext der Revision des autonomen Quebrachozolls. (Vgl. Schiele 1897, 332 ff.). Gelöst werden konnte das Problem nicht. Man mußte warten bis die Handelsverträge 1904 auslaufen.
[Zolltarifgesetz und Zolltarif zurück] Von Öffentlichkeit werden bereits die ersten Schritte und Initiativen, die der neue Staatssekretär zur Reform des Zolltarifgesetzes und Zolltarifs unternimmt, aufmerksam verfolgt. "Auf allen Seiten des Reichstages hatte man die Empfindung," lässt sich am 3. Juli 1897 die Berliner Zeitung darüber aus, "daß mit diesem Vorstoße sich eine Art von Umkehr ankündigte, eine Umkehr von der freieren Anschauung in wirtschaftspolitischer Hinsicht, wie sie in der Handelsvertragspolitik siegreich gewesen waren, zu der "unentwegten" Rechtgläubigkeit der nackten junkerlichen Agrarwirtschaft. Dagegen melden "Die Grenzboten" aus Leipzig Widerspruch an:
Zunächst konstruierte sie daraus einen Gegensatz zwischen Reichsschatzamt und Auswärtigen Amt. Außerdem wollte man darin ein
Möglicherweise, räumt der Kommentar des "Grenzboten" ein, gibt es einige Unterschiede zwischen Posadowsky und Freiherren von Marschall. Doch es zeugt von einem großen Mangel an Reife der rechten und linken Parteien, dass die Tarife wie die Verträge vom ersten Augenblick an auf das erbitterste bekämpft werden. Man konnte aber aus den Worten des Staatssekretärs keine "Bekehrung der Reichsregierung zur wirtschaftlichen Weltanschauung der Agrarier schließen". Indem man die Anschauungen des Staatssekretärs des Innern derart vergewaltigt, protestiert Georg Schiele in "Zoll- und handelspolitische Aussichten" (1897, 332 ff.), könnte damit in leichtsinnigerweise und zu Unrecht das internationale Vertrauen in die Vertragstreue der Staatsregierung erschüttert werden. Posadowsky sprach sich in der kritisierten Stellungnahme für autonome Handelstarife aus, die nach einer gründlichen Durchsicht, Ergänzungen und Verbesserungen erfahren sollen. Die Parteien sollten sich nun endlich beruhigen und gemeinsam (!) mit dem reichsschatzamt eine brauchbare Grundlage für einen verbesserten und den wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßten Zolltarif schaffen.
[Handelstag 1901 zurück] "Anknüpfend an seine Erklärung vom 14. März 1898 spricht der Deutsche Handelstag [1901] die Überzeugung aus, dass zur Erhaltung und Förderung des Volkswohlstandes, der wirtschaftlichen wie politischen Machtstellung des Deutschen Reiches, insbesondere auch zur lohnenden Beschäftigung seiner stark wachsenden Bevölkerung, die Fürsorge für die Ausfuhr deutscher Erzeugnisse durch Beibehaltung und weitere Anwendung der bisherigen Politik der langfristigen Handelsverträge bethätigt werden muß. Als wesentlicher Inhalt der Handelsverträge ist die Herabsetzung und Bildung der Zollsätze und Gewährung der Meistbegünstigung zu betrachten." "Die Einführung der sogenannten Doppeltarife, Maximal- und Minimaltarif, ist als schwere Gefährdung des Abschlusses günstiger Handelsverträge entschieden abzulehnen." Zum Pessimismus besteht kein Grund, glänzt der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern am 8. Januar 1901 in seiner Eröffnungsrede auf dem Deutschen Handelstag die Probleme weg. Der technische Fortschritt verbürgt die bessere Naturbeherrschung und die Internationalisierung (Globalisierung) der Arbeitsteilung als Produktivkraft senkt den Aufwand je Produktionseinheit. Als Mittel zur Expansion des Außenhandels nennt Posadowsky auf dem Handelstag nicht Schutzgebiete, Kartelle oder Flottenrüstung, sondern vertraut auf die "Hilfe des deutschen Erfindergeistes". Zuhause erfordert dies den wirtschaftlichen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Die Botschaft des Staatssekretärs wird gut angenommen. Allerdings erwartet der Handelstag, dass er vom Reichstag rechtzeitig in die Beratung zum Entwurf der Zolltarife einbezogen wird. Gegen die hohen Lebensmittelzölle erhebt er Einspruch, weil dies die Kaufkraft der Konsumenten für industrielle Erzeugnisse schwächt. Minderbemittelte Bevölkerungskreise bedrohen die erhöhten Preise in ihrer wirtschaftlichen Existenz. In der Sache, eine schwere Kritik. Die Presse rätselte, ob es Posadowsky deshalb vorzog, die Tagung kurz nach dem Ende seines Referats zu verlassen. [Abschluß der Verhandlungen zurück] Anfang des Jahres 1901, beobachtet der "Vorwärts" (Berlin), da brach die Zollwut aus, als Posadowsky und Genossen sich schlechterdings nicht dabei beruhigen konnten, dass irgendein Produkt ohne erhöhten Zollschutz blieb. "So haben sie die Zölle da gesteigert, wo sie ausdrücklich erklären mussten, dass aus den Kreisen der Interessenten keine Anträge gekommen sein." An die Stelle eines Generaltarifs sollen ein Minimal- und Maximaltarif treten. Zur Vorbereitung stellte das Reichsamt des Inneren detaillierte Produktionsstatistiken auf, was sich als "außerordentlich nützlich erwiesen", blickt im Juni 1899 Posadowsky darauf mit Stolz zurück. Aber der neue Zolltarif selbst, der wird im Reichsschatzamt festgelegt. [Osterfahrt zurück] Im Winter 1902 auf 03, erzählt 1914 Karl Kautsky, ereigneten sich beim Kampf um den Zolltarif die "schärfsten Kriegsszenen im Reichstag". Indes kam das Interesse des Zentrums mit der Regierung schon überein. Beide wollten die Landwirtschaft schützen. Allerdings war darauf zu achten, dass speziell die Wünsche und Ansprüche der ostdeutschen Agrarier nicht überbordeten. Mussten sie neu austariert oder sogar zurückgeschnitten werden? Posadowsky wird es klären und begibt 1902 auf "Osterfahrt". "In Dresden, München, Stuttgart und Karlsruhe hatte man die Unersättlichkeit der ostelbischen Junker satt", bilanziert Franz Mehring die Stimmung. Man will ihnen nicht mehr gewähren, als der Zolltarif ohnehin schon bietet. Mit dieser delikaten Mission brach Posadowsky Ostern 1902 zu einer Rund-Reise an die deutschen Höfe auf. Eine schwierige Aufgabe, denn einerseits registrierte man, hatten Bülow und Posadowsky ein Herz für die "nothleidende Landwirtschaft", andererseits aber eine Heidenangst vor den rabiaten Landsknechten aus den Osten. Herauskam ein "Jupheidi-Jupheida-Kurs" (Mehring). Dabei wußte er sich durchaus mit Bülow einig, dem klar war, "wenn die militanten Agrarier mit ihren uferlosen Forderungen im Reichstag durchdrangen, dann würde dies bei den Arbeitern sowieso beim Groß des Bürgertums große Erbitterung auslösen." (Fesser 1991, 70) [Bauernfasching zurück] Die Gesamtabstimmung zum Zolltarifgesetz erfolgte in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1902 (siehe unten). Wer jedoch Lust verspürte, konnte am 11. Februar 1902 virtuell beim "Wahren Jacob" in Gesellschaft mit dem Minimal- und Maximaltarif abtanzen. Aus Anlass der Verhandlungen zum Zolltarifgesetz und Zolltarif spielt hier zum Bauernfasching Graf Posadowsky mit Band auf.
Speziell den Agrariern kam das System der Minimal- und Maximaltarife entgegen. Der Konventionaltarif fiel weg und die Unterhändler können bei ihrem Angebot allenfalls bis zum Minimaltarif herabgehen. Bei Anwendung des Minimaltarifs durften die Agrarier hoffen, hohe Getreidezölle abzuschöpfen. Das hört sich, wie man sagt, zunächst gut an, weil beim Abschluss jene Händler den Kürzeren ziehen, die nur über einen General- beziehungsweise Konventionaltarif verfügen. Andererseits kann Deutschland mit dem Minimaltarif diese Preise unterschreiten. Und es fällt nicht besonders auf, dass der Minimaltarif eine Waffe des Schutzzolls ist. Begonnen hatten die "wirtschaftlichen Vorgefechte" am 11. Januar 1892 damit, daß Frankreich dieses Doppelsystem einführte, worauf ein Jahr später Spanien und andere folgten. Doch es wurde berichtet, dass keines dieser Länder den Minimaltarif wirklich durchführen konnte und sich selbst schadete, weshalb sich die Regierung Frankreichs genötigt sah, dieses System teilweise oder gänzlich außer Kraft zu setzen. Vom sozialistischen Standpunkt lehnte man es in Deutschland sowieso ab und die Regierung setzte sich ihrerseits dem Verdacht aus, dass ihre Fürsorge, die sie anlässlich der Flottenvorlagen für den Handel zeigte, nur imperialistische Nebelpolitik war. (Vgl. Wirtschaftliche Vorgefechte 22.4.1900) Befürworter und Gegner der Zollgesetzgebung trugen mit einer bisher nur selten erlebten Härte ihre politischen Kämpfe aus. Umstritten war nicht nur die Frage des Einheits- oder Doppeltarif. Grundlegende Fragen der wirtschafts- und Staatsentwicklung standen zur Disposition. Zum Beispiel soll die Exportwirtschaft über alle Maßen begünstigt werden? Oder muss die binnenwirtschaftliche Entwicklung im gleichen Takt gefördert werden? Ist der Schutzzoll nur ein Notbehelf oder eine Dauereinrichtung? Das Schutzzollsystem
dient nicht schlechthin protektionistischen Zwecken, also der Zurückdrängung
der internationalen Konkurrenz, sondern mehr und mehr fiskalischen Im Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Gesetzgebungsverfahrens beschließt - nach einer fast neunzehnstündigen ununterbrochenen Sitzung - der Reichstag in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 1902 das Zolltarifgesetz und den Zolltarif. Daran nahmen 304 Abgeordnete Teil. Ergebnis: Ja 263, Nein 35, 69 Enthaltungen. [Der Segen für die Landarbeiter zurück] Nach Abschluß der Verhandlungen im Reichstag, reibt die Opposition sich vorzugsweise am Schuldigen,
Der erklärt am 12. Dezember 1901 im Reichstag aus Anlass der ersten Beratung des Zolltarifgesetzes noch einmal geduldig die Notwendigkeit und den Erfolg dieser Strategie: Seit 1879, als die Bismarck`schen Schutzzölle eingeführt wurden, ist der Verbrauch von Baumwollgarn um mehr als Doppelte gestiegen. Im noch viel höherem Maße profitierte die Eisenindustrie von dieser Politik. 1879 betrug die Roheisenproduktion Englands das Dreifache der deutschen, die jetzt, 1901, fast die Höhe der englischen erreicht hat. "Der Roheisenzoll ist in Zeiten industrieller Krisen eine Notwendigkeit, um eine Überschwemmung des deutschen Marktes mit Roheisen zu verhindern."
Die quantitative Betrachtung zur Steigerung der Produktion erfaßt nicht die sozialen Ausdifferenzierungs- prozesse in der Gesellschaft nach Klassen und Schichten und die hierdurch bedingten Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen. Zweifellos steigerten die Zölle die Grundrente, die im Wesentlichen wieder, entweder durch Aufnahme einer Hypothek oder durch Verkauf des Guts zu einem höheren Preis, kapitalisiert wurden. Während die Besitzer sich an der Kapitalrente labten, mussten die Landarbeiter, die jetzt, statt höhere Löhne zu bekommen, für die Verzinsung des erhöhten Kapitals Sorge tragen. Das war, blickte am 20. Januar 1914 der SPD-Reichstagsabgeordnete Hermann Krätzig (1871-1954) zurück, "der Segen des Zolltarifs für die Landarbeiter". Vom Standpunkt der Agrarier bietet sich noch eine andere Möglichkeit an: Man importiert gemäß den Reproduktionsbedürfnissen aus China billige Arbeitskräfte. "Die Großgrundbesitzer", berichtet Abgeordneter Arthur Stadthagen am 12. Februar 1906 (1196) im Reichstag, "haben ja schon diesbezüglich Unterhandlungen angeknüpft."
[An das arbeitende Volk Deutschlands! zurück] Die Malaise veranschaulicht am 19. Dezember 1902 die SPD in der großangelegten Erklärung
Diese Politik bedeutet "eine der schwersten Schädigungen für die Lebenshaltung und die wirtschaftliche Entwicklung der ungeheuren Mehrheit des deutschen Volkes, insbesondere der arbeitenden Klassen". Dafür konnte sie einige Gründe nennen. Infolge der Zollgesetzgebung müssen die Lohnabhängigen immer höhere Lebensmittelpreise tragen. Nicht nur sie, natürlich! Aber ihr Arbeitslohn richtet sich im Unterschied zu anderen Einkommen, nicht direkt an den Lebensmittelpreisen aus, sondern bildet lediglich die Nachfrage von Arbeitskräften ab. Den Arbeiter und Arbeiterinnen blieb nur, lästerten damals die Sozialdemokraten, das teuerste Brot der Welt zu essen. Fleisch, noch immer für die meisten Familien ein Luxusgut, verteuerte sich.
Es kam nicht so schlimm wie erwartet. Unter Nutzung von Daten der Ortskrankenkasse Dresden mit seinen 118 000 Mitgliedern analysiert 1911 Karl Kautsky die Lohn-Preis-Spirale. 1899 beträgt der Durchschnittslohn für alle männlichen Versicherten 3,10 Mark. Zehn Jahre später 3,67 Mark, was einer Steigerung von 18,7 Prozent entspricht. Von 1899 bis 1909 erhöhte sich der Preis für Fleisch um 16,2 Prozent, für Magermilch um 16,6, Margarine um 20, Fische um 19,7 und Weizenmehl, Grieß um 28,1, für Brot um 15 bis 18 und Steinkohle um 13,8 Prozent. Während die Löhne in England im selben Zeitraum um 6,1 Prozent anstiegen, wuchsen sie in Deutschland um 18 Prozent, allerdings bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebensmittelpreise um 11 Prozent. Für alle weiblichen Versicherten erhöhten sich im Zeitraum von 1899 bis 1909 die Löhne um 16 Prozent, also von 1,81 auf 2,11 Mark. Ihre Zahl vergrößerte sich in diesem Zeitraum um 16.949 Personen. Das, kommentiert Karl Kautsky (1911), ".... deutet bereits auf einen bedenklichen Rückgang des Wohlbefindens der Arbeiterklasse hin. Es ist ein Symptom dieses Rückgangs, denn der Arbeiter, dessen Lohn ausreicht, schickt nicht Weib und Kind in die Fabrik". "Die Kinder bleiben mehr sich selber überlassen, die Kleider können nicht mehr so im Stande gehalten werden." Bei der Bewertung der Lohnentwicklung ist zu berücksichtigen, dass Sachsen zusammen mit dem Ruhrgebiet das führende Industrieland Deutschlands war und ein im Vergleich zu den übrigen Gegenden Deutschlands hohen Anteil tarifierter Lohnempfänger aufweist. Darüberhinaus bestehen zwischen Stadt und Land große Unterschiede beim durchschnittlichen Arbeitseinkommen fort. "Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Landarbeiter sind meist ebenso skandalös wie ihre Rechtsverhältnisse. Furchtbar lang ist die Arbeitszeit, und sehr karg ist der Lohn." Weiter berichtet SPD-Abgeordneter Hermann Krätzig (1871-1954) an diesem 20. Januar 1914 vor dem Reichstag: "Ich habe hier den Arbeitsvertrag des Ritterguts Klein-Gestewitz bei Naumburg; er ist geschlossen im Jahre 1910. Darin heißt es: Die Arbeitszeit währt im Sommerhalbjahr von früh 3 bis abends 8 Uhr, (hört! hört! bei den Sozialdemokraten) im Winter von früh 4 bis abends 7 Uhr."
Ich stehe zwischen zwei Welten zurück Praktisch machte Posadowsky 1902, den vor zehn Jahren gegen den Widerstand der Junker erfolgten Abbau der Getreidezölle wieder rückgängig, was die Lebensmittelpreise verteuerte und Proteste im Volk aufbranden ließ.
Im Fall des Zolltarifs sind die Maßregeln so tief- und durchgreifend, daß sie ohne direkte Stellungnahme des Volkes nicht hätten beschlossen werden dürfen, stellt erzürnt die SPD am 19. Dezember 1902 in "An das arbeitende Volk Deutschlands!" fest. Neuwahlen wären das richtige Mittel der Wahl gewesen. "Aber aus Furcht vor dem drohenden Volksurteil sind die Regierungen und die Reichstagsmehrheit dieser selbstverständlichen Forderung ausgewichen." Posadowsky verteidigt immer wieder die Notwendigkeit und den Erfolg der Zollpolitik. Die Industrie- und Agrarzölle dienen dazu, erklärt er der Öffentlichkeit, "dem deutschen Arbeiter vermehrte Arbeitsgelegenheit zu geben", unterschlägt aber die Teuerungsraten und sinkenden Reallöhne verschiedener Beschäftigungsgruppen und verschleiert damit den
Kann man, lautet eine psychologische Grundfrage der Zeit, in einem Zustand der Schizophrenie leben und dabei seinen täglichen Geschäften nachkommen? Man kann, durchaus, wenn man die moralische Selbstfindung und politische Innenschau nach dem Muster wählt, was der Tonio Kröger von Thomas Mann (1903) im Schlusskapitel im Brief an Lisaweta Iwanowna konstruiert: "Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer." Gewerkschaftssekretär Martin Segitz (1853-1927), ehemaliger Redakteur der Fränkischen Tagespost, wartet am 12. April 1913 mit einem Therapievorschlag auf: "Der Domherr von Naumburg möge einmal mit dem früheren Staatssekretär Grafen v. Posadowsky eine gründliche Gewissensforschung vornehmen, er wird dann zu dem Bekenntnis des reumütigen Sünders kommen, mea culpa, mea maxima culpa." Es bleibt die Frage, ob der Einzelne die logischen Widersprüche und Paradoxien in seinem Sinne eleminieren oder wenigstens reduzieren kann? Pfarrer Gottfried Traub (1869-1956 [siehe auch: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10]) ist es 1931 auf dem Parteitag der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in Stettin gegeben, dass Angebot auszupreisen:
Entgegen und im Unterschied der Lebensart, reale soziale und ökonomische Konflikte durch ein- und umfunktionierens mittels Frömmigkeit zu kaschieren und scheinbar aufzulösen, war Posadowsky als Christ der Glaubensbote und als historisch-materialistischer Arbeiterfreund Aktivist des ökonomisch, sozialen und kulturellen Fortschritts. In diesem riesigen politischen Feld vollziehen sich tiefgreifende, rasante Veränderungen, wie Monopolbildung, Klassensegementierung, Stadt-Land Konflikte, Proletarisierung bürgerlicher Schichten. Sein Antwort ist die Sozialgesetzgebung als Kulturaufgabe als ökomisch, soziale und moralische Agenda des Fortschritts. Inspiriert durch die christliche Lehre formuliert Posadowsky - besonders in Abgrenzung zur Irrlehre der Frömmigkeit als Konfliktlösungsmechanismus - folgende moralische Axiome des Handelns von immenser gesellschaftspolitischer Reichweite: [a] Als "Gegner der antisemitischen Agitation" formuliert er am 18. Januar 1912 in einer viel beachteten Rede im Volkshaus zu Jena den gesellschaftsmoralischen Grundsatz:
[b] Er widersteht den Angriffen auf die Sozialpolitik und der kulturellen Eosion durch den Sozialdarwinismus, indem er den sozialen Raum der Grundwerte - Würde des Menschen, Toleranz und Hilfe - gegen die "Auslese" und "Kampf um das Dasein" verteidigt und schützt. [c] Über freilich immer notwendige individuelle moralische Maßstäbe des Handelns hinaus, sucht er unter Einbeziehung der reformierten Christenlehre, dass Rechtsgefühl und den Anstand betreffend, gesellschaftliche Normen der gegenseitigen Achtung und Gerechtigkeit zu etablieren und Wirkung zu verschaffen. Unbeirrt streitet er - tief an den sozialen und politischen Ursachen angreifend - gegen die schlimme Wohnungsnot. In der "Wohnungsfrage ein Kulturproblem", plädiert (was vielleicht ein zu schwacher Ausdruck ist!) er 1920 (146), ohne den Begriff zu verwenden - trotzdem aber klar und unmissverständlich! - für ein Recht auf Wohnung. Alle Klassen und Schichten, begründet und fordert er, müssen ein Interesse daran haben, dass die minderbemittelten Schichten unter Verhältnissen wohnen, die den Anforderungen der Gesundheitspflege und Sittlichkeit entsprechen. Es gilt besonders dann, wenn der Arbeiter sein einziges Besitztum, die Arbeitskraft, verliert.
Deutsch-amerikanischer Zollkrieg zurück Am 3. Mai 1897 informiert der Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Biberstein (1842-1912) den Reichstag, daß Deutschland aufgrund des protektionistischen Handelskurses der Vereinigten Staaten von Amerika, den Schriftwechsel vom August 1891 mit seiner Regierung zur Handelspolitik als hinfällig betrachtet. Jetzt steht die deutsche Regierung vor der Frage, ob die bisherigen Vergünstigungen für sie durch Anwendung niedriger Zollsätze aus dem Handel mit Österreich-Ungarn und anderen Staaten, weiter gewährt werden können. Außerdem erwägt die Reichsleitung 1897 die Kündigung der Meistbegünstigungsregel. Deutschland rechnet sich für seinen riesigen Export, 1896 3 ½ Milliarden Mark (RT 6.12.1897), die größten Chancen aus, wenn es ihn - zumindest in bestimmten Regionen - freihändlerisch realisieren kann. Die USA durchkreuzen diesen Plan. Mit den USA-Präsidenten-Wahlen am 3. November 1896 gelangt William McKinley (1843-1901) an die Macht und ordnet für die deutschen Schiffe umgehend die Tonnengebühr an. Seit dem 27. Juli 1897 ist der Dingley-Tarif, genannt nach dem republikanischen Mitglied des Repräsentantenhauses und ehemaligen Gouverneur von Maine Nelson Jr. Dingley (1832-1899), in Kraft, was zu einer spürbaren Erhöhung der Zölle führte. Er stellt "was die Höhe der Zollsätze betrifft, seine Vorgänger noch weit in den Schatten". Die Hamburger Kaufmannsschaft sagt in ihrem Jahresbericht 1897, dass der Dingley-Tarif alle schlechte Erwartungen weit übertroffen hat. (Vgl. Kanitz RT 11.2.1899, 785f.) Im Wettbewerb um eine gute Handelsbilanz geht Deutschland 1899 mit einem Minus von 85,4 Millionen Dollar, was 363 Millionen Mark entspricht, klar als Verlierer vom Platz. Außerdem befürchtet das Handelskapital, dass sich die überseeischen Märkte von den handelspolitischen Beziehungen mit Deutschland loslösen.
An der Unterbilanz reibt sich besonders das konservative Lager. Reichstagsabgeordneter G r a f H a n s v o n K a n i t z (1841-1913) und Genossen interpellieren am 6. Februar 1899 (783) betreffend der handelspolitischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika:
Wenn diese Entwicklung nicht unterbrochen, erläutert Graf Hans von Kanitz (RT 11.2.1899, 783f) in Ergänzung zur eingebrachten Interpellation, werden die Vereinigten Staaten in kurzer Zeit ein bedenkliches Übergewicht über die "alten Kulturländer Europas" erlangen. Das ist alles nicht so schlimm, redet G r a f v o n P o s a d o w s k y noch an diesem Tag erstmal die Schwierigkeiten herunter. Ein riskantes Manöver, denn einige Reichstagsabgeordnete, eben Graf von Kanitz, oder Dr. Roesicke, äußern bereits Zweifel, ob er dem Ausland auf handelspolitischem Gebiet mit dem erforderlichen Nachdruck entgegentritt. Nach der Rede von Kanitz beantwortet zunächst der Staatssekretär des Auswärtigen von Bülow die Interpellation von Kanitz und Genossen. Grundlage bleibt, betont er, das preußisch-amerikanische Abkommen von 1928. Aus den bestehenden Abmachungen kann man folgern, das Deutschland in allen Zollfragen die unbeschränkte Meistbegünstigung gewährt wird. Doch bei der Gewährung der Reichweite traten mit der amerikanischen Regierung Differenzen auf. Speziell bei Zucker und den Tonnengeldern soll dies der Fall gewesen sein. Dann ist Graf von Posadowsky (RT 11.2.1899, 790) an der Reihe. "So interessant gewiss und sogar wahrscheinlich vielleicht die Perspektive war, in welcher Herr Graf von Kanitz die Dinge zu entwickeln sahe, halte ich derlei Zukunftsbetrachtungen wohl mit Recht für wenig förderlich." Dies eindeutig: Er scheut an dieser Stelle ud zu diesem Zeitpunkt eine fundamentale Auseinandersetzung. Vielmehr scheute er keine Mühe, die Einwände und Zweifel zu zerstreuen. Die Bevölkerung der USA nimmt stark zu. Auf industriellem Gebiet expandiert das Land. Man darf also die Probleme nicht allein auf die Zollgesetzgebung zurückführen. Kanitz, Bülow und Posadowsky finden an diesem Tag in der Einsicht zusammen: Ein Zollkrieg ist nicht möglich. Ebenso steht eine allgemeine Zollerklärung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nicht in Aussicht. Früher oder später wird im Handel der nichtamerikanischen Staaten der autonome Tarif Einzug halten wird. Die Übertreibung bringt die Heilung und der Dingley-Tarif wird irgendwann abgeschafft. Allerdings stieg der Außenhandelsüberschuß der Vereinigten Staaten von Amerika von 1895 bis 1898 um 2600 Prozent. Dennoch ist Deutschland nächst England für die Handelsbeziehungen mit Amerika das wichtigste Land. (Posa RT 11.2.1899, 802) Natürlich ist die Lage ernster als sie in diesem Auftritt zum Ausdruck kommt. Denn im Gegensatz zu den Industrieländern Europas erwirtschaftet die USA eine aktive Handelsbilanz (1899/1900 Einfuhr / Ausfuhr: 849,7 / 1394 Millionen Dollar. Vgl. Cunow 1900). Aber eine lange Reihe von Zollsätzen nach dem Maßstab ihres Tarifs würden die Amerikaner als Herausforderung aufnehmen. Die Probleme waren natürlich nicht gelöst. Posadowsky berichtet von schikanösen Zuständen im deutsch-amerikanischen Handel, beispielsweise durch die Erschwerung der Legalisation der Rechnungen. Jeder Fabrikant muß vor einem amerikanischen Konsul erscheinen und von ihm die Richtigkeit der Rechnung bekräftigen. Ganz Elsaß-Lothringen muss, um seine Ausfuhr nach Nordamerika zu bewerkstelligen, entweder persönlich nach Kehl, wo der nächste amerikanische Konsul seinen Sitz hat, oder sich Bevollmächtigte in Kehl halten, welche im Auftrag der elsaß-lothringischen Ausfuhrhäuser den amerikanischen Konsul persönlich zu besuchen haben. Zur Gereiztheit im deutsch-amerikanischen Handel gesellten sich Empfindlichkeiten, die aus dem spanisch-amerikanischen Krieg resultierten, wozu in der Öffentlichkeit die verbreitete Annahme eines Übelwollens bestand. Posadowsky (RT 11.2.1906, 791f) nutzte die Beantwortung der Interpellation dazu, dies verbreitete Fehlurteil abzuräumen Worauf die leidenschaftlich geführte amerikanisch-protektionistische Außenhandelspolitik abzielt, ist eindeutig: die Verdrängung der deutschen Waren vom amerikanischen Markt. Was sie w i r k l i c h an Reaktionen in elitären Kreisen Deutschlands und an strategischen Überlegung in der Wirtschaft- und Handelselite hervorruft, ist schwieriger zu überschauen. Jedenfalls äußern am 3. Mai 1897 in der Reichstagsdebatte Abgeordnete Kritik an der amerikanischen Invasion. C o r n e l i u s v o n H e y l z u H e r r n s h e i m (1843-1923) von der Nationalliberalen Partei moniert am Verhalten der Amerikaner ihre moralische Unausgewogenheit. Die "amerikanischen Techniker" füllen "unsere Universitäten und bringen deutsche Wissenschaft und deutsche Technik nach Amerika." Dafür "benehmen" sie sich "in rücksichtsloser Weise. Wir haben bedauerlicher Weise aus unserem Maximaltarif einen Minimaltarif gemacht und damit eine wichtige Waffe aus der Hand gegeben. Wir lassen uns vom Ausland viel zu häufig schikanieren."
Reichstagsabgeordneter E u g e n R i c h t e r von der Freisinnigen Volkspartei warnt, die Marshall-Erklärung und sie begleitende Debatte im Reichstag könnte den "nationalen Chauvinismus" wecken. Beim Abgeordneten H e y l sieht er ein Überwuchern der agrarischen Interessen. Trotz schwerer Folgeprobleme der Hochschutzzollpolitik, empfiehlt er, Deutschland soll an der Meistbegünstigung festhalten. Der Staatsminister, Staatssekretär des Innern und Bevollmächtigter im Bundesrat G r a f v o n P o s a d o w s k y erklärt am 14. Dezember 1899
(3387f.) er empfindet es als schmerzlich, dass das handelspolitische Verhältnis zu Amerika bisher noch nicht geregelt werden konnte. Und weiter: "Wir haben sehen müssen, dass, während Amerika fortwährend unsern ganzen Konventionaltarif eingeräumt erhält, diese Land seinerseits seine Zölle in einer Weise erhöht hat, die zum Theil einen prohibitiven Charakter annimmt, und diese Zollerhöhung durchführt in einer Weise, welche für die deutsche Industrie außerordentlich lästig ist (Sehr wahr. rechts)." Dieses gewaltige Land versucht immer mehr sich gegen die europäischen Staaten abzuschließen. "Auf der anderen Seite hat uns England den Vertrag gekündigt, durch den ausgeschlossen war, dass das englische Mutterland Vorzugszölle in den einzelnen Kolonien gegenüber den deutschen Bundesländern einführen konnte. .... Daß aber in England die Neigung besteht, auf diesem Wege fortzufahren und uns so zu Gunsten englischer Fabrikate mit der Ausfuhr unserer Fabrikate zu differenzieren und so vielleicht von dem ganzen Markte des englischen Weltreichs, das ist ebens so unzweifelshaft. Stellen sie sich also, bitte, vor: wenn Nordamerika, in seiner ungeheuren Ausdehnung und mit dem Einfluß, den es auch auf andere amerikanische Staaten übt, und wenn ferner das englische Weltreich versucht, uns in diese Weise mit unserer Produktion von dem Weltmarkt auszuschließen:
Daß unter diesen Verhältnissen der Wunsch bei uns rege ist, daß wir wenigstens auf dem noch verbleibenden Theile des Erdballs eventuell mit gleichen Machtmitteln auftreten, wie England, wie Amerika, dass wir auch mit gleicher Autorität auftreten können, wie unsere handelspolitischen Konkurrenten - das ist, glaube ich, gerechtfertigt, und hierin liegt auch die eigentliche innere Ursache, weshalb im deutschen Volke
P o s a d o w s k y hält nichts von der Anwendung eines autonomen oder Konventionaltarifs (RT 22.02.1906, 1512), weil damit nur die Industrieerzeugnisse erfaßt würden. Reichstagsabgeordneter Cornelius von Heyl zu Herrnsheim (1843-1923) artikulierte, "das(s) eine allzugroße Nachgiebigkeit gegenüber Amerika, einseitige Zugeständnisse nicht die Wirkung haben würden" "deutsche Exporte zu fördern" (RT 11.2.1899, 796). Er wendet sich aber gegen eine verschärfte Gangart in den deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen. Das sagt er nicht so dahin. Diese Herangehensweise leitet er aus seinen Erfahrungen auf dem Gebiet der Zollverhandlungen her, die man so zusammenfassen kann: Eine Interessengruppe die durch Massregeln eines anderen Staates geschädigt ist, möchte sofort, dass man à tout prix einen Zollkrieg anfinge. Es kommt also sehr darauf an, sagt er am 16. Juni 1899 vor dem Reichstag, mit welchem Teil des deutschen Volkes und mit welchen Interessierten man verhandelt. Welche Gebiete unserer Industrie sind geschädigt und kann die Industrie eventuell den Schaden tragen? Ist er vorübergehend oder ist er von Dauer? "Daß ist die Grundlage, von der aus die Regierung die handelspolitischen Fragen betrachten muss." (Posa RT 16.6.1899, 177) Am 22. Februar 1906, also sieben Jahre später gibt F r e i h e r r H e y l z u H e r r n s h e i m vor dem Reichstag folgenden Überblick über den Stand des deutsch-amerikanischen Handelsstreits: "Ich habe vorhin schon angeführt, daß die zollpflichtigen amerikanischen Rohwaren, die Massenartikel, die wir weiterhin beziehen, früher mit 27 Prozent ihres Wertes belastet waren, jetzt aber mit 40 Prozent verzollt werden sollen. Diese Erhöhung ist für Amerika ja tatsächlich eine fühlbare Wirkung unseres neuen Zolltarifs, und ich habe vorhin schon erwähnt, daß die dabei beteiligten landwirtschaftliche Interessenten infolgedessen in dieser Frage auch beruhigter sein können als die Industrie, indem die amerikanischen Fabrikate von 27 Prozent der seitherigen Belastung nun auf 28 Prozent in die Höhe gebracht sind. Tatsächlich wird der Zollbetrag, den Amerika für die Fabrikate, die es bei uns einführt, zu zahlen hat gegenüber dem früheren Handelstarif nur um 3 Millionen erhöht. Amerika zahlt in Zukunft für seine Fabrikate 78 Millionen Mark Zoll, während es bisher 75 Millionen gezahlt hat." Auf der Tagesordnung des Reichstages steht am 22. Februar 1906 (1495) die Erste und zweite Beratung zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Reichskanzler B e r n h a r d v o n B ü l o w legt sich fest:
Durch die Bewilligung, versuchen wir uns im Guten zu verständigen. (Er will also keinen Handelskrieg.) Bei Abschluss bis zum 1. März 1906 ergäbe sich die Möglichkeit dem Partner, die Sätze unserer Handelsverträge bis zum 30. Juni 1907 zu gewähren. Betont aber, dass sich der Abschluß eines deutsch-amerikanischen Handelsvertrages bis zu diesem Tag als unmöglich herausgestellt hat. "Es handelt sich also um einen Akt der autonomen Gesetzgebung", womit der Unterschied zur Position von Posadowsky vom 22. Februar 1906 sichtbar, "und dadurch wird zugleich zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinigten Staaten bei uns ein Recht auf Meistbegünstigung haben." (Ebenda 1494) Der US-Senat lehnt 1906 die Zollerleichterung für Deutschland ab. (vgl. Heyl 1906 1509 ff.) - Wir räumen, sagt der Reichskanzler, Zollermäßigungen ein, zu denen wir nicht verpflichtet sind. In einem Atemzug damit beteuert er, "keine politische Freundschaft mit einer Benachteiligung unserer Wirtschaft" erkaufen zu wollen. Als Endtermin bis zu welchen Tag die Vereinigten Staaten die Zollsätze unseres Konventionaltarifs statt der Sätze unseres Generaltarifs gewährt werden dürfen, schlägt er den 30. Juni 1907 vor (vgl. RT 1494). Noch immer handelt es sich,
bei den Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika
Von der gesetzgebenden Körperschaft des Reiches erhielten sie lediglich die Vollmacht, diesen für die Dauer von 17 Monaten ein Konventionaltarif einzuräumen. "Es handelt sich also nicht um eine definitive Maßregel, sondern nur um eine rein provisorische, die in der Hoffnung getroffen ist, daß es in dem gegebenen Zeitraum möglich sein würde, zu einem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu gelangen, welches den berechtigten Wünschen Deutschlands einigermaßen Rechnung trägt." [Zusammenschluss europäischer Staaten zurück] Die amerikanische Invasion rollt mit der Hochschutzzollpolitik und dem Dingley-Tarif an. Im Resultat entsteht ein Überschuß mit Deutschland. Weil er schwere volkswirtschaftliche Widrigkeiten und Gefahren für Deutschlands Sozialsystem fürchtet, geißelt, wie nicht anders zu erwarten, P o s a d o w s k y (RT 6.12.1897, 58) diese ambitionierte protektionistische Außenhandelspolitik. Bloß die letzten Konsequenzen spricht er in diesen Tagen nicht aus: Deutschlands Aufstieg zur Industrienation und die Verteidigung der Arbeiterschutz - und Sozialgesetzgebung verlangt die Sicherung der staatlichen Souveränität (Staatshoheit). Zunächst könnte das durch a) Gründung einer Europäischen Zollunion oder b) einen direkten Zusammenschluss der europäischen Staaten erreicht werden. Die politischen Folgen für Europa zu durchdenken, überlässt der Staatssekretär des Inneren zum Beispiel F r i e d r i c h H a m m a c h e r (1804-1904) von der Nationalliberalen Partei (NLP). Der Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Duisburg, Mühlheim an der Ruhr und Oberhausen gibt am 9. Dezember 1897 (RT 96) zu Protokoll:
nothwendig ist, um in dem Kampfe ums wirtschaftliche Dasein, den die Völker im nächsten Jahrhundert führen werden, erfolgreich in dem Wettbewerbe
Aber Deutschland fällt dabei eine wesentliche Aufgabe zu als demjenigen kontinentalen Staate, der schon heute die stärksten Exportinteressen hat. Deutschlands Pflicht ist es deshalb, sich rechtzeitig mit den nöthigen Machtmitteln auszustatten, um bei der Lösung dieser Aufgabe mitwirken zu können."
Die Handelsverträge von 1905 zurück Den sieben Handelsverträge - Rußland, Italien, Belgien, Ungarn, Rumänien, Schweiz, Serbien - wurde unter lauten Hallo der junkerlichen Treiber am 22. Februar 1905 durch den Deutschen Reichstag mit 226 / 79 beziehungsweise 228 / 81 Stimmen die Absolution erteilt (Heinrich Cunow). "Der heutige Tag", merkt dazu Franz Mehring (SPD) an, "wird in der deutschen Geschichte einen historischen Markstein bilden." Die Aushandlung der Verträge, die immerhin sieben Zusatz-Verträge umfassen, was einen komplizierten Regelungsbedarf für die Kündigung der Altverträge, aber auch für den Ratifizierungsprozess in den Ländern der Handelspartner nachsichzieht, dauerte drei Jahre. Am Tag nach der Abstimmung lobte die Vossische (Berlin) Posadowsky als
der "die gesamte Materie weit besser beherrschte als irgendein anderes Mitglied der Regierung". Es war die Leistung der Mitarbeiter des Reichsschatzamtes. Und alles schloß mit einer temperamentvollen Rede vor dem Plenum ab. Er gestand offen ein, dass die Wirkung der Handelsverträge "in der Stärkung der junkerlichen Position" bestehen (Cunow 1905). Vom Reichskanzler gab es Glückwünsche, von den Agrariern stürmischen Beifall und aus den Händen des Kaisers den Schwarzen Adlerorden.
Heinrich Cunow (SPD) (1905, 705, 707) charakterisiert die neuen Handelsverträge als eine Abkehr von den Caprivischen Dokumenten der neunziger Jahre und Rückkehr zur bewährten Traditionen des Bismarck`schen Wirtschaftens. Sie sichern den einheimischen Markt der Agrarproduzenten auf Kosten der deutschen Industrie und dort beschäftigten Arbeiter. Die neuen Vertragssätze sind ein Mehrfaches höher als die bisherigen, für Kühe und Jungvieh sogar mehr als die von der Regierung in ihren Tarifentwürfen vorgeschlagenen Höhe. Zur Verteuerung der Lebensmittel durch Agrarzölle und Verminderung der Arbeitsgelegenheit, tritt die Verteuerung der Industrieprodukte durch die Preispolitik der Syndikate. (Vgl. Cunow 1905, 710) Nun werden sie, "fürchtet Franz Mehring (SPD), "die "Hungerpeitsche über die Volksmassen" schwingen." Dagegen wird eine Handvoll von Gutsbesitzern, die "nur ein rudimentäres Organ am nationalen Körper bilden", sich die Taschen "zum Zerplatzen füllen." Was Siegestaumel und Siegesangst (22.2.1905) sonst noch mitzuteilen hat, fällt für die H a u p t f i g u r (Vossische Zeitung) ebenfalls nicht günstig aus: "Man kann dem Grafen Posadowsky als dem Macher dieser Handelsverträge heute ein Gefühl des Triumphes nachempfinden. Es ist nicht jedermanns Sache, die historische Unvernunft in einer parlamentarischen Körperschaft des allgemeinen Wahlrechtes zu einem durchschlagenden Erfolg zu führen. Man braucht den Grafen nicht zu beneiden, aber man darf ihm danken, dass er als Sieger wenigstens die Maske fallen lässt und offen ausspricht das, was ist. Drei Jahre hat der Kampf um diese Handelsverträge gewährt, und bergehoch hat sich die gesprochene und geschriebene Makulatur getürmt, worin die Brotwucherer in ihrer Art und mit Gründen, die danach waren, nachzuweisen versucht haben, dass sie nur um des Gemeinwohls willen die Hungerpeitsche über den Volksmassen schwingen. Alles das schiebt nun Graf Posadowsky mit lässiger Handbewegung fort, als ein trödelhaftes Geschwätz, und erklärt frank und frei, der ökonomisch und politisch gleich rückständige Großgrundbesitz solle durch die Handelsverträge erhalten werden, als Gegengewicht gegen die aufsteigende Klassenbewegung der Arbeiter, gegen das "radikalste Wahlrecht der Welt", gegen die "nervöse Hast", womit das "Volk" danach strebe, "in höhere soziale Schichten emporzusteigen". "Der Industrie", beunruhigt Franz Mehring, werden die Handelsverträge "schwere Wunden schlagen und der arbeitenden Bevölkerung den notwendigen Lebensunterhalt unerträglich Weise verteuern." Aachner Stadtverordnete gönnten den städtischen Arbeitern und minderbesoldeten Beamten zum Ausgleich der Preissteigerungen eine Teuerungszulage. Der Redner des Zentrums, Kommerzienrat Bossen, äußerte: "Es sei ein Skandal, dass man solche Beschlüsse fassen müsse; nur durch die Schuld der Agrarier sei man dazu gezwungen." Ihre Schuld ist es, dass die Lebensmittel in Aachen so teuer sind, dass mit der Summe eine halbe Stunde entfernt in Holland schon ganz gut Leben kann. Diese Misere ist am 20. Januar 1906 den Arbeiterwillen aus Graz noch einmal Anlass, um festzustellen: Die Politik des Lebensmittewuchers und Volkshungers ist das Werk der klerikalen Parteien. Ausschlagend hierfür ist die Zustimmung des Zentrums. Ohne sie, wäre es nicht möglich, diese Gesetze zu verabschieden. In einer frühen Phase seiner Geschichte stand das Zentrum dem Militarismus ablehnend gegenüber und wirkte 1887 und 1893 an der Auflösung des Reichstages mit. Aber an diesem Standpunkt durfte, erklärt 1913 Julius Bachem (1845-1918) (14) nicht festgehalten werden. Nun kam es dahin, dass ihnen August Bebel am 11. Dezember 1900 (421) entgegenschleudert:
Das Zentrum unterbreitete den Vorschlag, die Mehreinnahmen der Reichskasse aus den agrarischen Zöllen, zur Einrichtung einer Arbeiterwitwenpensionskasse zu verwenden. Wie Sentimental, applaudiert am 9. April 1902 Franz Mehring in "Posadowskys Osterfahrt", dass die Regierung einen letzten Tropfen für das Krüglein der Witwe retten soll, während doch ihre abenteuerliche Weltpolitik die Kassen immer leerer fegt.
Bekämpfung und Annäherung an die Sozialdemokratie zurück Feinden vertraut und glaubt man nicht. Wir haben Feinde, die wir hassen müssen, und Feinde, denen wir einst nahegestanden. Einigen von ihnen, möchte man besser nie in die Hände fallen. Es gab auch Feinde, von denen erhielt man überraschenderweise Hilfe. Uns begegnen Feinde von gestern, heute und morgen. Wir kennen Feinde der Menschheit und des friedlichen Zusammenlebens. Sind die Sozialdemokraten Posa´s Feinde? Natürlich nicht. Das können sie nicht sein, wenn auch mancher so tut, es ideologisch so vorträgt und provoziert. Es sind seine sozialdemokratischen Gegner, die ihm, wenn es darauf ankam, politisch, alles in allem große Achtung entgegenbrachten. [Annäherung an die Sozialdemokratie zurück] Wenn Posa die soziale Frage als Ausdruck der ökonomischen Lebensform der Produzenten, einschließlich ihrer Familien und Unterhaltsbedürftigen begreift, die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der arbeitenden Klassen anerkennt und in die Gesellschaft einpflegt, heißt dies nichts anderes als, daß er sich der ökonomisch-deterministischen Denkweise der Sozialdemokratie annähert. Ihren Forderungen muß er sich deshalb nicht zwangsläufig anschließen, da noch andere Präferenzen der sozialen Frage zu berücksichtigen sind. Über Gemeinsamkeiten in den sozialen-, arbeitsschutz- und wohnungspolitischen Zielen hinaus, entfalten sich Unterschiede und Gegensätze. An dieser Stelle und in diesen Zusammenhängen ist die kooperative Betrachtungsweise nicht neu. Otto von Bismarck antwortet am 26. November 1884 in dieser Weise dem Sattler Ignaz Sauer (*19.4.1846) aus Schwerin. Er wurde vor zehn Jahren aus der Stadt Dresden auf Grund der Bestimmungen über den "kleinen Belagerungszustand" verwiesen und ist jetzt SPD-Reichstagsabgeordneter. Der Reichskanzler kommt ihm entgegen und anerkennt das Opposition notwendig und nützlich ist. Natürlich ist die Sozialdemokratie so, "wie sie ist, doch immer", "ein Menetekel für die besitzenden Klassen". Die Partei nutzt, "daß nicht alles so ist, wie es sein sollte". Natürlich muss "Hand zum Bessern angelegt werden" "und insofern ist ja die Opposition . ganz außerordentlich nützlich". "Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe, und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existiren (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) und insofern ist die Furcht vor der Sozialdemokratie in Bezug auf denjenigen, der sonst kein Herz für seine armen Mitbürger hat, ein ganz nützliches Element (Bravo! bei den Sozialdemokraten.)." (Bismarck RT 26.11.1884, 25) [Wer Recht erringen will .... zurück] Auf der großen Volksversammlung am 28. November 1911 in Vorbereitung der Reichstagswahlen am 12. Januar 1912, legt er in der 78 333 Einwohner zählenden Stadt (1910) Bielefeld seinen rechtspolitischen Imperativ im Umgang mit der Sozialdemokratie dar:
Aus der Pespektive der klassenmäßigen Selbstverteidigungsposition beurteilt, ist es verständlich, wenn der "Vorwärts" seine Hoffnungen zertsäubt. Aus Sicht der moralischen Normierung der parlamentarischen Gefechtslage und des Klassenkampfes, enthält der Imperativ bemerkenswerte Implikationen. Aber hierauf lassen sich die Sozialdemokraten nicht ein. Sie gestehen ihm ein "gewisses Wohlwollen" zu, doch in der Politik entscheidet "nicht das gute Herz einzelner." (Halbheiten 1911)
Vielleicht deuten sich eben hier Haltungen der Linken zu seinen politischen Ambitionen an, die sich dann in den 20er Jahren im regionalpolitischen Feld von Naumburg (Saale) in der Politikkultur negativ auswachsen. Er wird oft nicht verstanden. Trotz vieler Jahre Streit, Kampf und Kooperation, begreifen viele seine Art des Herangehens und des Umgangs mit den Sozialdemokraten nicht. Typisch Georg Ledebour (1850-1947), der ihn am 17. Februar 1912 (101) im Reichstag vorwirft:
"Diese Absicht verfolgte er schon als Staatssekretär, hat aber eben damit keinen Erfolg erzielt. Zu der Zeit als er amtierte, hat die Sozialdemokratie einen enormen Aufschwung erzielt." Posadowsky kontert:
Ihn, den immer die ökonomischen Grundlagen der sozialdemokratischen Bewegung bewußt, der ihre Konflikte verstanden, sie mit der Arbeiterschutz- und Sozialgesetzgebung gewissermaßen betreute, um die Verhältnisse zum Besseren zu wandeln, politischen Erziehungswahn vorzuwerfen, verkennt seine Leistung und Methoden. [Wie noch kein anderer Staat der Welt? zurück] Ihn grämt, was er uns mehrfach in seinen Reden anvertraut, dass die Sozialdemokraten mit der Revolution spielen und nicht anerkennen, "was der Staat und die bürgerliche Gesellschaft für die arbeitenden Klassen bisher schon getan haben". Am 13. Februar 1897 (173) wirft er ihnen im Reichstag vor:
"Für die Arbeiter ist auch insofern gesorgt, als die Einzelstaaten die arbeitenden Klassen von den direkten Steuern befreit haben." (Vorwärts, 1. Beilage, 14.12.1897) Die These von der Singularität der deutschen Sozialpolitik muss an geeigneter Stelle noch hinterfragt werden. [Christliche Arbeiterbewegung zurück] Endlich sagt es mal einer, könnte der Parlamentskollege Adolf Stöcker (1835-1909) - als er Posadowsky am 13. Februar 1897 hörte - gedacht haben. Denn ihn stört schon längere Zeit "Das in manchen Kreisen eine üble Stimmung gegen uns herrscht .... " Es ärgert den studierten Theologen aus Halberstadt, Begründer der antiliberalen, antisozialistischen Christlich-Sozialen Bewegung, und macht ihn etwas fassungslos. "Wodurch ist diese hervorgerufen?", fragt er sich. Er hat da eine Vermutung, die durchaus mit Aussagen von Posadowsky korrespondiert. Sie lautet: "Für die Arbeitgeber fehlt in der Sozialdemokratie jede Anerkennung." Ergo könnte es sein, droht er am 12. Februar 1906 (1212) im Reichstag, dass in Kreisen der Staatsmänner, die Lust zu Reformen vergeht. Hierauf lässt sich der Staatssekretär nicht ein. "Diejenigen die unsere sozialpolitische Gesetzgebung angreifen, weil die Arbeiter dafür doch nicht dankbar wären, erkläre ich (Posa RT 6.2.1906):
Außerdem beurteilt er die Fähigkeiten der Arbeiterbewegung darauf zu reagieren, völlig anders, weshalb er fragt (1906):
Dabei assistiert ihn sofort wieder Stoecker (12. Februar 1906): "Und wenn die Herren von der äußersten Linken mit einer diabolischen Klugheit immer so tun, als ob sie allein die Interessen der Arbeiterwelt verträten, und die anderen Arbeiter glauben machen, daß das wirklich so sei, - wir im Reichstage sollten das nicht nachmachen, sondern immer unterscheiden zwischen der Arbeiterwelt und der Sozialdemokratie, die in ihren Interessen gar nichts miteinander zu tun haben. (Sehr richtig! Rechts)." "Den Kampf mit Herrn Stoecker und Konsorten", erwidert am 14. Februar (1906) August Bebel im Reichstag, "nehmen wir gerne auf. Er soll sich uns nur stellen ...." [Ist die Überwindung der Sozialdemokratie möglich? zurück] Im Kampf mit der Sozialdemokratie ragt Posadowsky Rede vom 12. Dezember 1905 (241) vor dem Reichstag heraus. Sie imponiert durch konstruktive, tiefreichende moral- und geschichtsphilosophische Überlegungen. Über allem steht die Frage:
worauf er antwortet:
Der zweite Teil der Rede vom 12. Dezember 1905 befaßt sich mit der Sozialdemokratie und bietet weiteren Aufschluss über seine politische Haltung. Die "National-Zeitung" aus Berlin ertappt ihn dabei, die Schwerpunkte nicht richtig gesetzt zu haben. "Nicht der Bureaukratismus etwa kommt nun auf die Anklagebank," argumentiert sie, "auch nicht Terrorismus, den die organisierten Arbeiter üben, und mit dem sie dem Reformeifer des Staates die werbende Kraft entziehen. Nein, die Besitzenden am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, sind es, die hindernd im Wege stehen. Weil sie in ihrer Lebensweise ebenso im Materialismus aufgehen, wie die Sozialdemokratie in ihrem Programm dem Materialismus huldigen." (Diäten und Sozialreform) Gewiss wäre es sprachlich besser gewesen, wenn er die Formulierung aus dem Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik übernommen hätte, um die Strategie der Sozialdemokratie zur Verbesserung der ökonomischen Lebensbedingungen für die unteren sozialen Klassen überzeugend darzustellen. Das war etwas unvorsichtig, vielleicht seiner Kampfstimmung geschuldet. Seine Kritik an der materialistischen Lebensweise beschreibt ein latentes und die bürgerliche Gesellschaft auftreibendes, also die innere Stabilität bedrohendes Werteproblem. Es ist eine Warnung an die Oberklasse, ihre Neigung zur unvernünftigen Art und Weise der Bedürfnisbefriedigung (Luxurierung) zu kontrollieren, um nicht im totalen Werteverlust zu enden. Aus dem Materialismus entspringt Genussucht, der Mangel an Opferwilligkeit und sittlichen Ernst. Das schlägt ein. Es ist sein Idealismus, folgert Henry Axel Bück (1830-1916) am 25. Dezember 1905 in den "Betrachtungen über die sozialpolitischen Vorgänge im ablaufenden Jahr", die ihn zu solchen Aussagen verleiten. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Doch Posadowsky will die Brille vom Geschäftsführer des Centralverbandes der deutschen Industriellen nicht aufsetzen. 1909 erhärtet er auf dem zwanzigsten Evangelisch-Sozialen Kongresses in Heilbronn seinen Standpunkt mit dem paradigmatischen Satz: "Viele Leute gönnen noch heute dem Arbeiter nicht den Luxus, dass er sich anständig kleidet." Die "National-Zeitung" gibt sich einer Fata Morgana hin, wenn sie behauptet, er stehe der Klasse der Besitzenden hindernd im Wege. Oft genug betonte und anerkannte Posadowsky die herausragende Rolle des veranwortungsvollen, privatwirtschaftlich agierenden Unternehmers und Nützlichkeit der Privatinvestitionen in Produktion, Handel und Wohnungsbau. Hier wird erkennbar ein Stück Realpolitik vorbereitet, die Posadowsky ablösen will. Ein Teil des gehobenen Bürgertums artikuliert, dass es an den Staatssekretär des Innern dezidiert andere politische Erwartungen hegt. Bis zu seinem Entlassungsgesuch sind es noch anderthalb Jahre. Die zweite wichtige politische Grundsatzfrage von Posadowsky, nicht in der Rede vom 12. Dezember, aber in vielen anderen immer wieder dartgestellt, lautet:
"Die Furcht vor einer sozialdemokratischen Reichstagsmehrheit teile ich nicht: wohl aber fürchte ich," sagt er 1906 im Reichstag, "daß die bürgerlichen Parteien durch das allgemeine Wahlrecht zu sehr genötigt werden, den Wünschen der Masse Rechnung zu tragen." (RT 7.2.1906) Vermittels eines Gesprächs zwischen ihm und Johannes von Miquel ist es möglich dies zu vertiefen. Der Reichsfinanzkünstler war bereits vier Jahre Tod, am 8. September 1901 in Frankfurt a. M. einem Schlaganfall erlegen, als Posadowsky am 12. Dezember 1905 (239) im Reichstag erzählt:
Einen neuen Impuls verleiht Posdowska dem Kampf gegen die Sozialdemokratie mit seiner Reichstagsrede am 6. Februar 1906. Nachdem er im Plenarsaal die an ihn gerichteten Fragen systematisch und konkret beantwortet hatte, widmet er sich der Opposition. Er fragt, wie kann man gegen drei Millionen Stimmen der Sozialdemokratie ankommen? Sie, so lautet der zentrale Vorwurf, erheben Forderungen, "die weder im Gegenwartsstaat noch im Zukunftsstaat" "noch in irgendeinem Staate der Welt jemals zu erfüllen sein werden". Denn ihre Erfüllung würde zum Zusammenbruch des gesamten wirtschaftlichen Lebens und mit ihm des Staates führen. "Weil die Sozialdemokratie hiervon überzeugt ist, erklärt sie: der ganze bestehende Staat muss beseitigt werden. Wie dieser Zukunftsstaat aussehen würde, davon habe ich wenigstens keinen Begriff. [Sehr gut!] Deshalb muss man es doch begrüßen, wenn eine Arbeiterbewegung besteht und sich weiterentwickelt, die erklärt:
[Der verwirrte Posadowsky zurück] Seit etwa 1897 artikulieren die Junker ein massives Interesse an der Erhöhung von Einfuhrzöllen auf Agrarprodukte, wogegen sich Teile der Bank- und Handelsbourgeoisie auflehnen, weil es für sie erkennbare finanzielle Belastungen und wirtschaftliche Nachteile bringt. Ob das bei einer historischen Revison, so haltbar ist? Im Programm der Deutsch-Konservative Partei (DKP) vom 8. Dezember 1892 heißt es: "Für die Industrie ist der durch die Konkurrenz des Auslands bedingte Zollschutz aufrechtzuerhalten und, wo nötig, zu verstärken." Recht und Freiheit, drohen der Interessenpolitik den Platz zu räumen. Posadowsky versteht es, im Feld der Handels- und Zollgesetzgebung an Bündnissen und Kompromissen zu schmieden. August Bebel und die dem Staatssekretär ansonsten oft zugeneigte sozialdemokratische Volksstimme aus Magdeburg nutzen die Gelegenheit, um ihn mir nichts dir nichts unter das Verdikt eines "Land- und Industriebündlers" zu stellen. Der SPD-Vorsitzende behauptete gar, er sei durch den Verkehr mit den Kapitalisten
Der "Verwirrte" erklärt am 12. Dezember 1900 (488) im Reichstag in der Haushaltsberatung für das Rechnungsjahr 1901 zu seinem angeblich schwankenden Bewusstseinszustand:
[Junker, Centralverband deutscher Industrieller, Klassenpolitik zurück] Nur, warum hebt er das Problem so ironisch an? Soll etwas verharmlost werden? Vielleicht. Betrachtet man die Ergebnisse der Untersuchung, die der SPD-Reichstagsabgeordnete Richard Fischer aus Berlin zur Zwölftausendmark-Affäre vier Wochen nach seiner Rede, genau am 12. Januar 1901, vorlegt, dann wird einiges klar. [a] Für die forcierte Agitation zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses, vom Bundesrat am 26. Mai 1899 dem Reichstag vorgelegt, erhält das Reichsamt des Innern als Untertstützung vom Centralverband deutscher Industrieller (CdI) die Summe von zwölftausend Mark. Die Förderung staatlicher Institutionen durch die Privatindustrie lehnt die SPD ab. Richard Fischer (Berlin) übernimmt am 12. Januar 1901 im Reichstag, die Formulierung des politisch und moralischen Standpunkts: "Wenn die Kosten für solche Unternehmungen von denen getragen werden, die den Profit davon haben", unterläuft dies die Würde der Regierungsarbeit. "Vielleicht kommt die Regierung selber auf den Gedanken," hofft der Reichstagsabgeordnete, "daß sich bei jedem Gesetz die Frage erheben muß, wer zahlt denn bei diesem Entwurf die Kosten. Heute ist der Staatssekretär [Posadowsky] etwas abgerückt vom Centralverband. Er muss sich da eben den Vorwurf der Treulosigkeit machen lassen."
[b] Von der angeblich "hohen neutralen Bedeutung der Sache für unser Vaterland", die am 9. Februar 1900 Graf von Posadowsky aus Anlass der Novelle des Flottengesetzes postulierte, blieb, wenn man es aus der Nähe betrachtet, nicht viel übrig. Damals wurde es in der Öffentlichkeit so hingestellt, "als sei die Flottenrüstung die Folge einer plötzlichen Erhebung der Volksseele aus einem lange Schlafe". Tatsächlich stellte sich heraus, daß der CdI die großartigen Flottenkundgebungen finanzierte, pensionierte Kapitäne engagierte, die durchs Land zogen, um die Begeisterung für die Flottenrüstung anzufachen. Und da waren auch noch die vielen Flottenprofessoren (Eugen Richter 1899), wie Nationalökonom Gustav Schmoller (1838-1917). [c] Der SPD-Abgeordnete Richard Fischer stützt sich im Januar 1901 in seinen Aussagen vor dem Reichstag auf Tatsachen, die als Beleg für seine Behauptung genügen könnten, "daß es der Centralverband ist, der die Schuld an dem Mißstand der socialpolitischen Gesetzgebung trägt." Er führt die Beschränkung der freien Hilfskassen und ihre Manöver zur Novelle zum Krankenversicherungs-Gesetz an. [d] Millionen fließen in die Hände von Friedrich Alfred Krupp (1854-1902), Großstahlfabrik Essen und den Großindustriellen von der Saar und Abgeordneten der Reichspartei Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (1936-1901). [Gegen Überreglementierung zurück] Die Entstehung, Ausformung und Existenz einer friedlichen Beziehung zwischen Arbeiter und Kapitalist stützt sich nach Anschuungsweise von Posadowsky, idealerweise auf Recht und Gesetz, dass durch den Staat definiert, geformt und geschützt wird. Es darf aber nicht überreglementiert werden, wozu er am 16. Dezember 1897 vor dem Reichstag darlegt: "Ich habe aber ferner allerdings ausgeführt, daß es außerordentlich bedenklich sei, sämtliche Erwerbszweige Deutschlands polizeilich reglementieren zu wollen, daß man auf diesem Gebiet nur mit der äußersten Vorsicht vorgehen sollte; denn es sei bedenklich, Verordnungen zu erlassen, die sich in ihrer Ausführung gar nicht kontrollieren lassen und die sehr leicht dahin führen, daß das Verhältniß zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, der soziale Frieden, der zwischen diesen beiden Kategorien unbedingt bestehen muß, aufs schwerste gefährdet wird. Das Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer kann man nicht nur auf den rechtlichen Vertrag stützen, es muß auch ein gewisses Pietätsverhältniß bestehen." Was für eine Enttäuschung brandete durch die sozialdemokratische Öffentlichkeit als nach der Veröffentlichung im "Vorwärts" am 15. Januar 1898 das von ihm unterzeichnete Rundschreiben vom 11. Dezember 1897 zur Strafverschärfung des Paragraphen 153 der Gewerbe-Ordnungs-Novelle bekannt wurde! Sah so das pietätvolle Verhältnis von Arbeiter und Unternehmer aus, das er sich wünschte? (Siehe Kapitel: Graf Posadowsky hat die Schlacht verloren.) [Vaterland zurück] Eine zweite gestaltende Idee von Posadowsky im Verhältnis von Unternehmer und Arbeiterschaft, verkörpert das "Vaterland". August Bebel tut so, wirft er ihn am 13. Dezember 1897 (171) im Reichstag vor, als ob die Mittel der Landesverteidigung nur den Besitzenden, den Reichen und Kapitalisten zugutekommen. Wohl kann er seine Warnung, die indirekten Steuern für die Lohnabhängigen nicht zu stark zu erhöhen, verstehen, und will ihm hier "durchaus beipflichten". Nicht unterstützen will er dessen Darstellung, als ob die Armee und Marine nur zum Schutz des Besitzes da sind, und hält entgegen:
Der Arbeiter besitzt nach Posadowsky deshalb ein Vaterland, weil sonst für ihn die allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine Wahlrecht aufhörte. Was würde dann aber, fragt der Vorwärts (Berlin) am nächsten Tag nach, aus "dem herrlichen deutschen Kriegsheer, das schon heute zur Hälfte aus industriellen Arbeitern besteht .... Dass aber dieses Heer für die Arbeiterschaft da ist, zu ihren Zwecken und Diensten besteht, wird Herr Posadowsky als treuer Diener seines Herren, des obersten Kriegsherren, nicht einmal zu behaupten wagen." Die Sozialdemokraten lassen sich darauf ein, die Vaterlandsidee zu einer ideologischen Kategorie ihres Selbstverständnisses zu machen. Politiker wie Gustave Hervé (1871-1944) schlagen sie aus, weil sie darin ein Konstrukt des Nationalismus erkennen, woraus für sie folgt, die Pflicht zur Vaterlandsverteidigung abzulehnen. Besonders darauf kam es Posadowsky-Wehner an, wenn er argumentiert, die arbeitende Klasse steht nicht außerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb muss sie ebenfalls ein "Interesse an der Sicherheit des Staates" und der "Aufrechterhaltung des Friedens" haben. Andernfalls "wäre aber allerdings die Aufrechterhaltung des allgemeinen direkten Wahlrechts auch nicht mehr berechtigt". Ein Krieg könnte die Vaterlandsliebe und Einheit des Volkes zerreißen, stellt sich am 10. Februar 1900 (4022) August Bebel im Reichstag vor: "Wenn es eines Tages das Unglück wollte, daß unsere Brüder, Söhne, Enkel zum männermordenden Kriege unter die Waffen gerufen würden, empfangen sie von ihren Gegnern gegenüberstehend die Todeswunden. ".... dann sind es in so und so viel Fällen deutsche Gewehre, deutsche Kanonen und deutsche Kugeln, mit denen sie erschossen werden. (....) Es sind die internationalen Kapitalisten, die Leute,
die den Werth ihres Vaterlandes nach der Höhe des Profits bemessen, den sie finden. (....) Die Waffen und Munition für alle Mächte der Welt liefern, das ist christlich, brüderlich! Ja! Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"
[Klassengesellschaft und sozialstrukturelles Denken zurück] Die wilhelminische Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft. In ihr lebt der klassische ökonomische Gegensatz zwischen der Lohnabhängigen und Unternehmer. Bedingt durch die den industriellen Aufschwung nimmt die Klasse der Lohnarbeiter stark zu. Ihre Aufstiegschancen waren gering. Klassenunterschiede brechen sich über die gravierenden Unterschiede zwischen Stadt und Land und der konfessionellen Zugehörigkeit auf. Die Landarbeiter zogen in die Städte. Posadowsky lernte volkswirtschaftlichen und individuellen Schwierigkeiten Folgen in Ostpreußen kennen, und wußte: "Die Arbeiter gehen fort, weil es ihnen so schwergemacht wird, eigenen Besitz zu erwerben. Kämen sie nicht in der heimischen Industrie unter, so gingen sie nach Amerika." (Posa RT 13.12.1897) Obwohl die Unterschiede
zwischen Arm und Reich zunehmen kommt ihm nicht der Gedanke, die von Adam
Smith im "Wohlstand der Nationen" (1776) aus dem erweiterten
Reproduktionsprozess von Rente, Profit und Lohn abgeleitete Sozialstruktur
in Grundbesitzer, Unternehmer und Arbeiter zu leugnen. Die Landarbeiter zogen in die Städte. Posadowsky lernte die Folgen in Ostpreußen kennen. Er ist sich der volkswirtschaftlichen und individuellen Schwierigkeiten bewusst:
Ihn kommt nicht der Gedanke, die von Adam Smith im "Wohlstand der Nationen" (1776) aus dem erweiterten Produktionsprozess von Rente, Profit und Lohn gegliederte Sozialstruktur in Grundbesitzer, Unternehmer und Arbeiter zu leugnen. Nicht ohne Stolz verweist er 1919 (RT 14.02.1919, 84) auf das aufblühende deutsche Staatswesen mit aufsteigender Klassenbewegung vor dem Krieg. Infolge der schweren wirtschaftlichen Rezession setzt danach der umgekehrte Vorgang ein: Die höher gestellten Klassen sinken nach unten. (Vgl. V&R 74) Er überlässt die Gesellschaft nicht dem Markt und der "unsichtbaren Hand". Die sozialstrukturell bedingten Gegensätze sollen sich nicht weiter aufbauen, weshalb es notwendig ist vom Überschuß abzugeben.
Orientiert an den Bedürfnissen, Interessen und Lebenslagen der sozialen Klassen, Schichten und Gruppen, schreitet er als Staatssekretär des Reichsschatzamtes und des Inneren auf dem deutschen Weg, der sich durch die Verbindung von Wirtschaft-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vom anglo-amerikanischen Kapitalismus unterscheidet, fort. Seine sozialstrukturelle Denkweise verleiht dem Sozialen Konturen und verstärkt die poltische Aussagekraft seiner Reden, was zugleich Konflikte anzieht, denen andere Politiker bereits durch eine neutrale Sprechweise ausweichen. Leider bildet, teilt er am 1911 in Die Wohnungsfrage als Kulturproblem mit, die wohlhabende Klasse "noch immer einen verschwindend geringen Bruchteil". In Preußen konnten 1908 lediglich vier Prozent der Bevölkerung zur Vermögensteuer herangezogen werden. Von 38 Millionen deutschen Staatsbürgern beziehen nur 435.000 ein Einkommen von über 3.000 Mark. Wohl kritisiert er die SPD wegen ihrer Uneinsichtigkeit und ungenügenden Wertschätzung der sozialen Wohltaten des Staates, doch er verdammte sie nicht und zieht keine Brandmauer zwischen sich und den Sozialdemokraten hoch. Trotzdem blieb das nach 1919 von den sozialistisch-kommunistischen Trupps, oder sagen wir besser von den Linken, völlig unbeachtet. Ähnlichkeiten, Bindeglieder, Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten mit ihm, weigerte man sich zu sehen. Folglich vermochte man ihre Möglichkeiten, politisch auch nicht neu zu denken. Das gibt den Blick, dies sei hier vorweggenommen, auf eine stadtgeschichtliche Tragödie frei, die wir in ihrem Ausmaß und Folgen bis heute nicht voll verstanden haben. [Empathie zurück] Arthur Graf von Posadowsky-Wehner trägt die Überzeugung durchs Land, dass Empathie und soziale Pflicht des Christen in der Sozialpolitik zusammenwachsen. "Ich halte die Sozialpolitik", dekretiert 1911 seine Bielefelder-Rede, "für ein sittliches Gebot, für ein Gebot der christlichen Religion und jedes Religions-Bekenntnisses jedes gebildeten Volkes." Den asozialen, nach materiellen Werten strebenden Menschen lehnt er ab. Menschen ohne Mitgefühl bedrohen und zersetzen den sozialen Charakter der Gesellschaft. Als 1930 in Deutschland mit den Notverordnungen soziale Leistungen gekürzt werden, warnte er: "Kalte Selbstsucht eines Volkes gegenüber leidenden Schichten seines eigenen Blutes bedeutet eine soziale Gefahr ." (V&R 74) Den Propheten Jesaias, "Ein Jeglicher sieht auf seinen Weg, ein Jeder geizet für sich in seinem Stande", führt er als Inbegriff des lieblosen und unsozialen Menschen vor. Feine Gemüter haben Mitgefühl und suchen, diesen Empfindungen in Wort und Tat auszudrücken. (V&R 74) Ihn zeichnet ein gesundes soziales Empfinden und Verständnis für die Lebenslage der arbeitenden Klassen aus. "Was würde werden," fragt er am 13. Dezember 1897 den Reichstag, "wenn - was Gott verhüte! - wir einen unglücklichen Krieg führten, Handel und Wandel stockten, die Fabriken still ständen, der heimische Boden nicht mehr so intensiv bearbeitet würde: - wovon sollte dann der Arbeiter leben! Die besitzenden Klasse können viel leichter über halten; die haben etwas zuzusetzen, nicht aber der Arbeiter, der von der Hand in den Mund lebt."
Empathie lenkt seine Kraft auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Steht ein Land vor wirtschaftlichen Problemen oder droht es in die Wirtschaftskrise zu sinken, so werden die Folgen dieses Zustandes "zunächst die Bevölkerungsschichten am schwersten treffen, deren Lebenshaltung auf unsicherer schwankender Grundlage beruht, d.h. all diese Kreise´, welche von dem Ertrage ihrer Tagesarbeit leben oder auf ein Einkommen angewiesen sind, welches nur nothdürftig das körperliche Dasein verbürgt." (V&R 74) [Arbeiterfreundlich zurück] Besorgt äußert Posadowsky am 12. Januar 1901 im Reichstag:
Gerechte Verhältnisse, geformt und beurteilt mit dem Maßstab des Rechts, realisiert als fairer Lohn und Anspruch auf Wohnung, auch im Fall der Arbeitslosigkeit, bilden die entwickelte moralische Grundorientierungen von Graf von Posadowsky. Daran ändert auch die folgende Passage aus einer Rede von August Bebel nichts: ".... ich hätte ihm [den Herrn Staatssekretär Posadowsky] gern vorgeworfen, er gehe in Versammlungen und zu Festen der Unternehmer. Wir überlassen ihm und seinen Geheimräthen, auf Versammlungen und Feste der Unternehmer zu gehen, soviel ihn beliebt; wir haben ihn und seinen Räthen aber vorgeworfen, dass sie zwar zu solchen Unternehmerzusammenkünften gehen, aber nicht zu Arbeiterversammlungen." (Bebel RT, 12.12.1900, 484) Bei einer tieferen Betrachtungsweise seiner Tätigkeit als Staatssekretär, die durch spezielle Codizies, Verhaltensanforderungen und Funktionen (Aufgaben) definiert ist, löst sich der von Bebel beschriebene Widerspruch in der institutionalisierten Rollendefinition auf. [Unglück, Pflicht und Menschlichkeit zurück] Am 10. Juli 1905 ereignete sich auf der Zeche Vereinigte Borussia in Dortmund ein verheerendes Grubenunglück. Ursache war ein Schachtbrand auf der fünften Sohle, der durch eine explodierende Petroleumlampe ausgelöst wurde. 39 Bergleute kamen ums Leben. Die Borussia Katastrophe wühlte die Öffentlichkeit auf. Anfang 1906 liegt dem Reichstag die "Interpellation der Mitglieder des Reichtstages Albrecht und Genossen betreffend der am 10. Juli 1905 auf der Kohlenzeche Borussia bei Dortmund stattgehabten Unglücksfälle" vor. Nachweislich, argumentieren sie, wurde das Unglück durch Außerachtslassen der allernotwendigsten Arbeitschutzbestimmungen herbeigeführt. Albrecht und Genossen wollen wissen, was der Reichskanzler zu tun gedenkt, um solche Grubenunglücke künftig zu vermeiden. Im Auftrag des Reichskanzlers lehnt Graf von Posadowsky am 6. Februar 1906 (1035 f.) "die Beantwortung der Interpellation" ab, "weil es sich nur um Fragen des preußischen Bergrechts handelt". Das wird im Saal nicht von allen akzeptiert. Zwar ist das Bergrecht Angelegenheit Preußens, nicht aber die Unfallverhütung. Letztere ist Sache des Reiches, hält ihnen vier Tage später der Maurer und Reichstagsabgeordnete Thedor Bömelburg (1862-1912) vor. Als Vorsitzender der Vereinigung der Maurer Deutschlands vermisst er eine klare und intensivere Kontrolle des Arbeitsschutzes durch die Gewerbeinspektoren. 1904 forderte das Schlachtfeld der Industrie 8752 Tote und 128 921 Verwundete. Registriert sind damit nur die Unfälle, wo die Berufsgenossenschaften eingreifen mussten. Die Gesamtzahl der Unfälle betrug 446 292. (Stücklen RT 5.2.1906, 1019) Posadowsky (RT 6.2.1906,
1035 f.) berücksichtigt die Kritik von Theodor Bömelburg und
erkennt an: "Zunahme ist notwendig". "Die Revision der
Fabriken können in der Tat noch nicht in dem Umfange vorgenommen
werden, wie es nötig ist." Und trotzdem beharrt Bömelburg
darauf, dass die Regierung "diesen Fall mit dem Mantel der Liebe"
zudecken will. Die Bergbaubehörden schwiegen. Der Staatsanwalt unternahm
zunächst nichts. Erst als das Oberbergamt am 28. September (1905)
ihm die Akten zusendet, worin zu Tage tritt, dass ein Verstoß nach
Paragraph 41 der Bergpolizeiordnung vorliegt, weshalb am 5. Oktober
ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen den Betriebsführer
Rüter eröffnet wurde. Nach Aussage von Bömelburg drängte
der Justizminister angeblich auf eine schnelle Bearbeitung. "Albrecht und
Genossen" legen 6. Februar 1906 dem Reichstag ihre Interpellation
vor. Posadowsky antwortet im Reichstag im Auftrag des Reichskanzlers.
Es folgen weitere Redner. Dann geht er nochmal an das Rednerpult. Jetzt
zeigt sich, wie er auf ernste Konfliktsituationen und schwerwiegende Kritik
reagiert. Die Interpellation und Hinweise von Maurer Theodor Bömelburg
redet er nicht hinweg, verleugnet nicht ihren sachlichen Kern, und antwortet:
Ist das Taktik? Nein. Er ist bemüht durch Mitgefühl mit den Opfern dieser Katastrophe, die Folgen gesellschaftlich zu bewältigen, indem er in seinem Verantwortungsbereich Arbeitsschutz- und Sozialgesetzgebung nach Schwächen und Mängeln absucht und geschwind die Aufgaben terminisiert. Warum nicht aussprechen, was zu sehen ist:
[Arbeitnehmerfreizügigkeit zurück] "Schon jetzt sind im Osten die Landwirthe gezwungen, um nicht die einheimische Scholle brach liegen zu lassen," instruiert am 13. Dezember 1897 Posadowsky (RT 13.12.1897, 172 ) den Reichstag, "große Masse von Ausländern heranzuziehen. Natürlich ist keine Rede davon, die Freizügigkeit aufzuheben und die Arbeiter in ihrer Möglichkeit, Erwerb zu finden zu beschränken." Die sozioökonomischen und gesellschafts-moralischen Auswirkungen sind in Posen gut zu erkennen. Von Ost nach West ziehen zunehmend Arbeitskräfte. Bis Juli 1906 landen über 96 000 Bergarbeiter aus den Provinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen, davon allein über 42 000 aus Ostpreußen, im Dortmunder Revier. Ein ansehnliches Kapital, das verloren geht, klagt Grundbesitzer Graf Hans von Kanitz-Pondangen (1841-1913). Jetzt bleiben wir auf den "Kosten der Auferziehung" für die Arbeiter sitzen. ".... und sind die Leute erwachsen, hat man diese großen Kapitalien aufgewendet, dann sind sie für denjenigen verloren, welcher die Auslagen gemacht hat." (Kanitz RT 5. 3.1908, 3641 ff.) So ähnlich steht es bereits in den ökonomischen Manuskripten von Karl Marx (Kapital I. 583). Beim Vergleich nationaler Arbeitslöhne sind alle Aufwendungen für die Arbeitskraft zu berücksichtigen: Preis und Umfang der Befriedigung natürlicher, notwendiger und entwickelter Lebensbedürfnisse, die Erziehungskosten der Kinder, "Rolle der Weiber und der Kinderarbeit", ihre Produktivität der Arbeit, ihre extensive und intensive Größe. Um die negativen ökonomischen, sozialen und moralischen Folgen der Arbeiternehmerfreizügigkeit zu begrenzen, müsste die Landwirtschaft ökonomisch und kulturell wettbewerbsfähige Löhne zahlen. Kann sie aber, weiß Posadowsky selbst nur zu gut, im Posener-Raum wegen Rationalisierungs- und betriebswirtschaftlichen Defiziten sowie Auswüchsen der junkerlichen Lebensweise nicht. (Siehe im Kapitel Ist er ein Agrarier den Abschnitt Der Junker Macht und Einfluss). Zwangsläufig erhöhen sich die Arbeitskosten der landwirtschaftlichen Produktion in Ostpreussen. Daran scnließt sich die staatliche Subventionswirtschaft mit dem Osthilfeskandal, der ein wesentliches Moment Hitlers "Machtergreifung" war.
Kernsätze der Sozialpolitik zurück Oft wird die deutsche Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg als Reaktion auf den wachsenden Einfluss der Sozialdemokratie und im Dienst der Domestizierung der Arbeiterklasse interpretiert. Man spricht von Aufgaben für die Systemstabilisierung. Andere begreifen sie vor allem als Pflegeleistung zur Produktivitätssteigerung der Arbeit. Posadowsky-Wehner überschreitet deutlich den Horizont sowohl einer populistisch wie ökonomistisch fundierten Sozialpolitik. Für ihn ist sie eine universelle kulturelle Aufgabe, ohne die kein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt gedeihen kann (V&R 126ff.). Damit geht er weit über die Grenzen seiner sozialethischen Auffassungen der Posener-Zeit hinaus, die Pflicht zur sozialen Fürsorge vor allem aus dem Gebot der christlichen Sittenlehre abzuleiten. Einerseits widersprach er ".... auf das heftigste, wenn der Centralverband deutscher Industrieller Forderungen, die der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit am Arbeitsplatz galten, als sozialdemokratisches Anliegen zurückwies." (Bahlcke 96) Andererseits darf die Sozialpolitik nicht die wirtschaftlichen Gesetze überschreiten und zerstören, weil sonst riesige volkswirtschaftliche Schäden zu gegenwärtigen sind (V&R 213). Das Bestreben um einen größeren Anteil der Arbeiter am Gewinn des Unternehmens, betrachtet Posadowsky (RT 12.12.1905, 240) als "an sich verständlich und auch berechtigt." Gleichwohl darf die Produktion dadurch nicht in einer Weise verteuert werden, dass diese konkurrenzunfähig, lebensunfähig oder reproduktionsunfähig wird. "Wenn der Unternehmer nicht mehr die Aussicht hat, sein Kapital wirklich gewinnbringend anzulegen, wird eben die Unternehmungslust überhaupt zurückgehen " "Werden also die Forderungen an die Löhne überschraubt, wird die Ware zu teuer, das Geschäft zu riskant, so leidet unter den fortwährenden Streiks zunächst die Unternehmerlust des deutschen Unternehmerstandes, dann trägt aber in zweiter Reihe den Rückschlag der Arbeiter, weil sich die Arbeitsgelegenheit entsprechend vermindert." Sozialpolitik verstand Posadowsky nicht als Praxis sozialer Geschenke an eine geschundene arbeitende Klasse. Vielmehr lotete er ihre Möglichkeiten und Grenzen im Feld von Humanität, Rationalität und Ökonomie aus. Das war ein konfliktreicher und anstrengender, von vielen Klein- und Detailarbeiten bestimmter Prozeß, den er auf den verschiedensten Organisationsebenen als Staatssekretär engagiert leitete. Dabei wendet er sich den sozial-ökonomischen Bedürfnissen der einzelnen Klassen, Schichten und Gruppen, den Interessen der Landwirtschafts- und Industrieverbände und Organisationen zu. Nichts weist auf eine moralische oder politische Abwertung der arbeitenden Klassen und Unterschichten hin. Unvoreingenommen und mit hoher sozialer Sensibilität, geleitet von christlichen Werten, analysiert er die soziale Frage, ohne sie zu kaschieren oder zu entstellen.
Die Sozialpolitik konstituiert sich aus dem Widerspruch, die Produktivkraft Arbeit als unerschöpfliche Quelle des Fortschritts zu erhalten und zu fördern, und den dafür immer nur begrenzt zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen. Ihre merkantile Ausgestaltung greift tief in das System der nationalen Lohnverhältnisse sowie der Renten- und Krankenbeiträge ein. Damit unterliegt die Sozialgesetzgebung zwangsläufig den Kampf der Interessen der sozialen Klassen, Gruppen und der im Reichstag konkurrierenden Parteien, dem Einfluss der Unternehmer nebst ihren Organisationen und den Gewerkschaften. Der 4. Bundeskongress der Gewerkschaften Deutschlands faßt am 20. Juni 1902 folgende Beschlüsse zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit:
Posadowsky wendet gegen diese Richtung der Arbeiter- und Sozialpolitik grundätzlich nichts ein.
Zu Beurteilung der Wirksamkeit der Sozialpolitik und Vorbereitung sozialpolitischer Entscheidungen werden inzwischen umfangreiche Statistiken herangezogen und die Maßnahmen mit Hilfe von soziologischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Modelle geplant. Angesichts der Bekannten offenen und versteckten sozialen und moralischen Atavismen, erwartet davon heute niemand die Lösung aller Probleme. Die soziale Frage reproduziert sich im Spannungsfeld von notwendigen Reformen und ökonomischen Möglichkeiten stets von neuen, wirft in den unterschiedlichsten Politikfeldern immer wieder Konflikte auf.
Die Wohlhabenheit steigt im Land deutlich, resümiert Posadowsky am 12. Dezember 1905 (240) im Reichstag. Damit wachsen die Ansprüche an die Schulbildung, die Kultur und materielle Lebenshaltung. Um sie zu befriedigen, verlangen binnen kurzem die Arbeiter und Arbeiterinnen nach einem größeren Anteil am Gewinn der industriellen Produktion. (Posa RT 14.01.1904, 267) Sind die ökonomischen Grenzen der Sozialpolitik damit aufgehoben? Am 14. Januar 1904 fragten die Abgeordneten des Reichstags:
Falls dem nicht genüge getan, sagen die Bittsteller am Horizont eine nationale Gefahr für Reich und Staat voraus. Der Herr Abgeordnete soll es mir nicht übelnehmen, antwortet Posadowsky (RT 14.01.1904, 267), "ich stehe auf dem Standpunkt, daß, wenn wir den Grundsatz annehmen, den er hier von der Tribüne des Reichstags erklärt hat, ich darin eine nationale Gefahr für Reich und Staat sehen würde." Unbenommen dessen, ist es durchaus so, dass sozialpolitische Initiativen vom Herzen, meist viel Ehr bringen. Demgegenüber ist die Regierung jedoch verpflichtet, sie mit dem Kopf zu prüfen. "Wenn wir diesen Grundsatz [des Interpellanten] annehmen, dass jeder Anspruch auf die Hilfe des Staates hat, soweit es sich um die Sicherung seiner Zukunft handelt, dann würden wir allerdings dem Idealstaat des Abgeordneten Bebel sehr nahestehen." - Die humanistische Rationalität als kognitive Methode zu eliminieren, bringt keine dauerhaften und guten Ergebnisse hervor. Entscheidend für die Wirksamkeit der Sozialpolitik ist ihr Ziel und die dafür eingesetzten Mittel, die Posadowsky so charakterisiert:
In der rechtspolitisch schwierigen Debatte um die "Interpellation der Mitglieder des Reichtstages Albrecht und Genossen betreffend der am 10. Juli 1905 auf der Kohlenzeche Borussia bei Dortmund stattgehabten Unglücksfalle", unterbreitet Posadowsky den Vorschlag größere Armenverbände zu gründen. "Es ist ein offenes Geheimnis," instruiert er am 6. Februar 1906 den Reichstag, "daß heutzutage an vielen Orten geradezu das System herrscht, daß einem Mann, der sich annährend schon zwei Jahre in dem Orte aufgehalten hat, also daran ist, den Unterstützungswohnsitz zu erwerben, zur Abwanderung zwingt, indem man dafür sorgt, daß er keine Wohnung bekommt oder keine Arbeit oder dergleichen. (Hört! Hört! und sehr richtig! Links)." Das System der schimpflichen Abschiebungen muss dringend beendet werden, lautet seine Forderung, wozu es notwendig, größere Armenverbände zu bilden. (Vorwärts 7.2.1906) Unverhofft erhalten wir Einblick in sein Bild vom Arbeiter. Es ist das Gegenstück zum drögen zoon politicon, der Schafsnatur, den August Bebel (RT 22.6.1899, 2648) so beklagte: "Je dümmer, je anspruchsloser, je billiger der Arbeiter ist, je mehr er sich den Forderungen des Unternehmers fügt, destomehr ist er das Ideal unserer Staatsmänner." "So wollen Sie den Arbeiter: unterthänig, willig, gefügig, allen Anforderungen seines Unternehmers gehorchend." Das war, selbst wenn es in der Bildungs- und Kirchenpolitik manche Differenzen mit der Arbeiterbewegung auzustreiten galt, nicht die Sache des Grafen von Posadowsky. Das Ansehen der Arbeiter und Arbeiterinnen - Original, man horche bitte auf! - muss gehoben, ihr Selbstvertrauen gestärkt werden. "Außerdem muß selbstverständlich die gerechte Behandlung des Arbeiters sowohl seitens der Regierungsorgane wie der bürgerlichen Gesellschaft hinzukommen, um sich das Vertrauen des Arbeiters zu erwerben und zu erhalten." (RT Posa 12.12.1905, 240)
Widerstand gegen die Sozialpolitik zurück Am 6. Juni 1899 passiert es: Die Sozialdemokratie ersticht einen der prominentesten Gegner von Graf von Posadowsky, den preußischen Montanindustriellen Carl Ferdinand von Stumm (1836-1901). Den bösen Traum illustriert Der Wahre Jakob im Juni 1899 in eindrucksvollen Bilder(n) aus der Sozialpolitikt.
Seit Bestehen der Sozialgesetzgebung, erklärt am 13. Dezember 1897 (173) Arthur Graf von Posadowky-Wehner vor dem Reichstag, steuerten die Arbeitgeber eine Milliarde Mark zur Sozialpolitik bei. Täglich werden für diesen Zweck rund eine Millionen Mark ausgegeben. Man kann also sagen: "Deutschland ist seit 25 Jahren ein reiches Land, um so mehr haben die reichen Klassen die Pflicht, von ihrem Überfluss für die arbeitenden Klassen abzugeben." "Die besitzenden Klassen haben aber noch mehr gethan; sie haben sich nicht beschwert, so oft ich auch mit Arbeitgebern gesprochen habe (ach! bei den Sozialdemokraten), - nein, meine Herren! - über die materiellen Opfer, die sie zu bringen haben aus Grund der sozialpolitischen Gesetze. Viel drückender sind die persönlichen Arbeitsleistungen, die ganzen öffentlich-rechtlichen Pflichten, welche die besitzenden Klassen im Interesse der Durchführung dieser Gesetzgebung zu leisten haben. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen . " (Posadowsky RT 13.12.1897, 173)
Allerdings muss die Aussage: "Die besitzenden Klassen beschweren sich auch nicht über die materiellen Opfer", etwas korrigiert werden. Weder im Reichstag noch in der politischen Öffentlichkeit besteht über die Fortführung der Sozialpolitik Einigkeit. Ihre Gegner eröffneten mittlerweile die verschiedensten Kampfplätze, im Deutschen Reichstag, in Vereinen, Institutionen der Kirche und der Presse sowie periodisch erscheinenden Publikationen. Es gibt einen Standpunkt, der auch in Deutschland," analysiert Posadowsky 1907 die Lage (RT 9.3.1907, 344), "wenn auch in verschleierter Form, sich in der Öffentlichket bisweilen geltend macht, der, wenn er ganz sein Herz entdeckte und aufschlösse, vielleicht erklärte: "Die Sozialpolitik war ein verhängnisvoller Schritt; der Kräftige in der Welt wird sich schon selbst behaupten, der Schwache wird untergehen." Dies kennzeichnet den Angriff der sozialdarwinistischen Ideologie auf die Werte der Würde, Empathie und Hilfe mit der für sie typischen Argumentationsfigur von der natürlichen Auslese als Naturrecht des freien Wettbewerbs. Zur Abwehr der kulturellen Erosion der humanistischen Grundwerte nutzt er die verschiedensten Anlässe. In der Rede auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress 1909 in Heilbronn kennzeichnet das moralische Grundproblem:
Scharfe Kritik am Sozialpolitiker Posadowsky ertönt am 24. Juni 1906 aus der Nummer 25 der Deutschen Arbeitgeber-Zeitung. Nach ihrer Auffassung trägt er "in erster Linie für den gesamten heutigen Zustand dieser Seite unseres öffentlichen Lebens" die Verantwortung. Also für die sozialpolitische Gesetzgebung sowie dafür, daß "das Korrektiv in Gestalt einer gesetzgeberischen Repression der Sozialdemokratie unterlassen wurde". Sie drücken ihre tiefe Unzufriedenheit über seine Amtsführung aus, welche in keineswegs erfreulicher Weise die "sozialpolitische Auffassung der leitenden Kreise während des letzten Jahrzehntes" widerspiegelt. Allmählich baut sich die Soge auf: Jetzt kommt die Forderung nach Ablösung. Dies wollen die Arbeitgeber aber nicht. Da bleibt die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung ganz klar und eindeutig: "Trotz alledem wünschen wir nicht den Rücktritt des Grafen Posadowsky." "Und zwar", man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, "vor allem aus Gründen der Gerechtigkeit." Sie bleiben keine Erklärung schuldig:
Ein typischer, sehr verbreiteter und immer wiederkehrender Vorwurf gegen die moderne Sozialpolitik lautet, dass sie an den misslichen Verhältnisse des Staatshaushalts schuld ist. Die Ausgaben für das Reichsversicherungsamt und der Zuschuss des Reiches, erörtert Posadowsky 1909 die Kostenproportionen auf dem evangelischen Kongress in Heilbronn, für die Invalidenrente betragen nach dem Voranschlag für das Jahr 1910 rund 53 ¼ Millionen Mark, bei einem Reichsetat, der bei 2.856 Millionen Mark abschließt.
Die Antwort atmet etwas von der Geduld, die ihm derartige Anwürfe abverlangen, denn eine bevormundende oder gar polizeistaatliche Sozialpolitik, kam ihn, dem die daraus erwachsenen Problemen voll bewußt, nie in den Sinn. Man kann es nochmal repetieren: Er will nicht alle Erwerbszweige polizeilich reglementieren, "um schließlich einen sozialistischen Polizeistaat herbeizuführen, in dem sich die Arbeiter nicht wohler befinden dürften als bisher, in dem aber die besitzenden Klassen sich zu bewußten Gegnern des Staats herausbilden würden." (Posa RT 13.12.1897)
Georg Wilhelm Schiele aus Naumburg an der Saale schwärmt 1913 im Grenzboten, der Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst,
Was er hier darbietet, ist wahrscheinlich der ausgefallenste, krasseste und reaktionärste politische Gegenentwurf zur aktuellen Sozialpolitik vom Typus Berlepsch / Posadowsky. Er nennt sie auch
weil sie volksverderbend ist, die gefährliche Masse verhätschelt, Abhängigkeiten prämiert und die Unternehmerkraft durch Abgaben schwächt.
Indes mit unverhältnismässigen Opfern, lautet das moralische Axiom Schieles, ist wenig zu erreichen, denn die Lage ist so: Einige Volksklassen leben auf Kosten anderer. Einige Mittelstandsexistenzen sind ruiniert. Einige Großhändler sind reich geworden. Den Bedürftigen jedoch hat das alles nicht viel geholfen. Jawohl, der produktive Stand ist geschädigt. "Schlimmer aber ist, das unsere vielgerühmte Sozialpolitik auf die Dauer eine lähmende, krankmachende Wirkung auf das Volk haben muß." (305) Als Gegenvorschlag präsentiert der völkischnationale Politiker "eine Sozialpolitik deutschen Geistes, die gegründet ist auf den altgermanischen Geist der Freiheit des einzelnen " (311) Diese Sozialpolitik ist ein konstitutives Element des Völkischen Staates, den Georg Schiele 1926 im Heft 9 der "Naumburger Briefe" entwirft. Nun ist, wirbt er für eine Ideen und Vorschläge, "Die Zeit des Reicherwerdens" vorbei. Heran zieht "Not und Härte". Das Wolhlleben der Vielzuvielen ist zu Ende. "Machen wir uns klar," diktiert 1926 der Völkische Staat (8), "daß alle zukünftige Soziapolitik von anderer Natur sein muß als die bisherige. Wir sind zu arm, um wirklich materielle Wolhtaten zu bieten. Wir dürfen noch viel weniger uns mit den Materialisten auf einen Wettlauf in materiellen Versprechungen einlassen. Was wir zu vergeben haben ist ein heldisches Ideal, welches in sich die Kraft hat, zu helfen mit Hilfe der Werkzeuge: Familie, Eigentum, Selbständigkeit, Freiheit. Die Erkenntnis, daß wir in unserer Lebenshaltung alle herabsteigen müssen, und daß das am allerunerbittlichsten für die Masse des Volkes gilt, - diese befreiende Lehre ist mehr wert als Zwangsversicherung, die nichts bringt, und die Erwerbslosen-Fürsorge, die die letzte Kraft und Lust zur Arbeit zerstört."
Historisch gesehen bereiten die Querelen um die lähmende, krankmachende Wirkung der Sozialpolitik oft schikanöse staatliche Maßnahmen gegen die Besitzlosen, Lohn- und Gehaltsabhängigen, Arbeitslosen, Alleinstehenden und Menschen mit ernsten Leistungshandicaps vor. Die Großindustrie dachte nach 1923 überhaupt nicht daran, sich dafür einzusetzen, erhöhte Steuereinnahmen des Staates zur Kompensation von Ungerechtigkeiten der Hyperinflation einzusetzen. Doktor Paul Silverberg (1876-1959) erörtert dies ausführlich am 4. September 1926 in Dresden auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI). Er sah dafür keine Notwendigkeit, zumal die Sozialpolitik, "die quantitative und qualitative Überspannung sozialer Fürsorge bei uns die Selbstverantwortung tötet".
Ich
bin aber, solange ich in diesem Amte stehe, Im Reichstag stößt die Fortsetzung der Sozialpolitik auf Widerstand, was von ideologischen Kontroversen begleitet ist. Seine Gegner stellen das
grundsätzlich in Frage. In der Reichstagsdebatte am 9. März 1907 (344/345) weist er als Staatssekretär des Innern diese Fraktion in die Schranken:
Dann argumentiert er. Ein Volk, dass in der Bildung fortgeschritten, stellt auch im Unglück höhere Anforderungen an seine Lebensführung als die Armenpflege gewähren kann. "Deshalb kann ein Volk von dem Kulturstande des deutschen Volkes die Sozialpolitik nicht aufhalten und nicht aufgeben, trotz aller stillen und offenen Gegner." Folglich kann die Sozialpolitik kein "verhängnisvoller Schritt" dagegen sein. Seit der freikonservative Abgeordnete Karl Freiherr von Gamp-Massaunen (1846-1918) ab Juni 1907 seine Angriffe gegen ihn, den Vizekanzler richtete, wofür er gleichsam in den Freiherrenstand erhoben, und die Norddeutsche Allgemeine jede Woche vom bornierten Unternehmerstandpunkt aus verleumderische Anklagen gegen die modernen Gewerkschaften erhob, konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass die Tage Posas gezählt waren. (VS 25.5.1907)
Meist äußern sich, skizziert der Staatssekretär des Inneren am 9. März 1907 (344) die Lage im Reichstag, die Widersacher der Sozialpolitik öffentlich nicht in schroffer Weise. "Die Freunde der Sozialreform" leisten Wühlarbeit. Sie bekämpfen jeden einzelnen (Fort-) Schritt und sorgen dafür, dass für den Schwachen nur das Notwendigste geschieht. "Und, meine Herren," streitet Posadowsky am 5. März 1907 (253) für seine Politik vor dem Hohen Hause, "dass gegen mich in der Öffentlichkeit, persönlich gehässige, giftige und verleumderischen Angriffe gerichtet sind, das ist allgemein bekannt . Es gibt eben Richtungen, die wollen, dass ein Staatssekretär gegen Sozialpolitik besteht.
Die Einkreisungs-Doktrin zurück Am 14. November 1906 entwirft Bernhard von Bülow vor dem Deutschen Reichstag die Einkreisungs-Doktrin. Während Entfesselungskünstler Harry Houdini am 8. Dezember 1915 dem staunenden Publikum vorführt, wie man sich aus der Zwangsjacke frei in der Luft an einem Seil hängend befreien konnte, gelingt es den meisten Deutschen nicht, die Einkreisungs-Doktrin abzulegen. Gustav Stresemann (1878-1929) sprach am 13. April 1919 (913) auf dem Parteitag der Deutschen Volkspartei (DVP) in Jena "von dem von allen Seiten bedrohten Deutschen Reich. "Deutschland als Militärstaat war im Jahre 1914 eingekeilt zwischen zwei Länder," schreibt Adolf Hitler in Mein Kampf, "von denen das eine über die gleiche Macht und das andere über eine größere verfügte. Dazu kam die überlegene Seegeltung Englands. Frankreich und Rußland allein boten jeder übermäßigen Entwicklung deutscher Größe Hindernisse und Widerstand."
Paul Rohrbach (1869-1956) erkannte 1920 in der Einkreisung-Doktrin ein notwendiges Moment zur Bildung der "Einheit des nationalen Empfindens" (Monarchie, Republik ....). Tatsächlich übernahmen oder adaptierten viele Bürger und Politiker die Einkreisungs-Doktrin. Selbst Kaiser Wilhelm II., außerstande die komplizierte Risikostrategie des Generalstabes zu durchschauen, wähnte sich als unschuldiges Opfer einer angeblich von langer Hand vorbereiteten Einkreisungspolitik der Entente (W. J. Mommsen 2005, 221). Die Einkreisungs-Doktrin leistete bei der Ausrichtung der politischen Emotionen zur Verfeindung und Homogenisierung des politischen Blicks zur europäischen Sicherheitslage wertvolle Dienste. Am 30. Juni 1913 verabschiedete der Reichstag in dritter Lesung die Wehrvorlage zur Erhöhung der Friedensstärke des Heeres um 117 267 auf 661 478 Mann. Deutschland ist nicht aggressiv, wirklich nicht!, sondern nur eingekreist - durch Frankreich, Großbritannien und Russland. Deshalb muss es wehrhaft bleiben. Ob Flottenrüstung, Erhöhung der Friedensstärke des Heeres oder Weltpolitik - alles konnte damit begründet werden. Der Dechant des Naumburger Domkapitels steht am 24. August 1924 im Kreuzgang an der Nordwand im Dom vor der steinernen Gedenktafel zu Ehren der im Krieg gefallenen Domschüler und schweift in Gedanken zurück in das Jahr 1914, der Zeit, "der trüben Flut politischen Hasses und heimlicher Begehrlichkeit unserer Feinde r i n g s u m." Allerdings trennt er 1919 "ringsum" vom deutschen Anspruch der Weltpolitik ab, wodurch es eine deutlich andere Bedeutung erhält. Das Konzept der Weltpolitik unterzieht er gesondert einer Kritik.
Kolonialpolitik und Weltstellung (Bernhard von Bülow) zurück Ende 1906 löst Bernhard von Bülow den Reichstag auf. Im Ergebnis der Neuwahlen am 25. Januar 1907 entsteht ein neues politisches Kräfteverhältnis. Im Juni 1907 legt Graf Posadowsky sein Amt als Staatssekretär des Inneren nieder. Eine mögliche Erklärung dafür bietet 1911 (41) Frank Ludwig in "Die bürgerlichen Parteien des Deutschen Reichstags " an. Reichskanzler Bülow musste versprechen, eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts herbeizuführen und einen Teil der Steuerhöhungen den Besitzenden durch Erweiterung der Erbschaftssteuer aufzuerlegen. Beides greift an die Wurzeln des Junkertums. Die Konservativen setzen sich zur Wehr, sprengen den Block und stürzen den Kanzler. Das ging nicht ohne Hilfe des Zentrums. Nicht die Kleinbauern aus dem Süden, nicht die Arbeitersekretäre aus dem Westen, sondern die aristokratischen Höflinge und hohen Beamten bestimmen den Gang des Zentrums. Soweit die eine Erklärung. Eine andere, die steht im Zusammenhang mit der Finanzierung der Kolonialpolitik und verlangt eine detailliertere und ausführlichere Darstellung.
Im Morgengrauen des 20. Juli 1905 reißen in Nandete im Matumbiland (Deutsch-Ostafrika) eine Frau und zwei Männer Baumwollpflanzen aus dem Boden. Eine Aktion die zum Signal für den Aufstand der Maji-Maji wurde. Es folgen Massaker und Strafexpeditionen bis Chief Chabruma´s Kämpfer durch die deutsche Schutztruppe am 25. Juni 1906 in Ungoni eingeschlossen und vernichtet. Der Aufstand der Maji-Maji gegen die repressive Kolonialherrschaft endet am 18. Juli 1908 mit der Erschießung von Rebellenführer Mpangiro. 1904 traten in Deutsch-Südwestafrika die Herero und Nama (von den Deutschen abschätzig als "Hottentotten" bezeichnet) in den Aufstand. Nach der verlorenen Schlacht am Waterberg, wollten sie durch Omaheke ins Betschuanaland (Botswana) ziehen. Deutsche Truppen verhinderten ihre Wasseraufnahme und ließen sie verdursten. Wer dem Massensterben entkam, vegetierte dahin oder starb oft im Konzentrationslager.
Allein für Ostafrika (Gesamteinnahmen 4.657.881 / Ausgaben 11.717.208 Mark) muss das Reich laut Budgetkommision des Reichstages 7.059.827 Mark an Zuschuß leisten. Kanzler Bernhard von Bülow legt im August 1906 dem Reichstag einen Nachtragshaushalt vor, der zusätzlich 29 Millionen Mark für die Kolonialtruppen und den Bau einer angeblich kriegswichtigen Eisenbahn vorsieht. "Man will
man will endlich die
langersehnte Kolonialarmee schaffen", konkretisiert am 14. Dezember
1906 der Vorwärts aus Berlin das Vorhaben der Regierung. Mindestens
5000 Mann, gegebenenfalls auch mehr, sollen in Südwestafrika
bleiben.
Matthias Erzberger (1875-1921), vom Zentrum, 1907 Kandidat für die Reichstagswahl im Wahlkreis Biberach, Leutkirch, Waldsee, Wangen, wendet sich gegen die Kolonialkriege mit ihren Grausamkeiten, den Morden und dem Terrorismus. Er fordert die Reduzierung der Truppen und der beantragten Regierungsgelder. August Bebel, SPD, lobt am 3. März 1906 seinen Einsatz im Reichstag und prangert die deutsche Ausrottungsstrategie an. Kann sich aber eine "Kolonisation als große Kulturmission" vorstellen. Durch die Veröffentlichung skandalöser Zustände, zum Beispiel zur Tätigkeit der Firma Tippelskirch & Co. GmbH, forcierte Erzberger die politische Krise, die 1907 in die Reichstagsauflösung einmündet. Als seinen Gegenspieler könnte man Bernhard von Dernburg (1865-1937) bezeichnen, seit 1907 Staatssekretär des Reichskolonialamtes, der in der Öffentlichkeit gerne eine "Kolonialidylle" mit "Sumpf-" und "Schwindelblüten" und "berauschender Zukunftsmusik" in den "rosigsten Farben" zeichnet. Von den Kolonialschwärmern des besitzenden Bürgertums wird dies gern aufgenommen. Der "Feuerwerker der Kolonialpolitik" will die Krise in der Kolonialpolitik überwinden, redet dazu vor allem die Ökonomie der Kolonialwirtschaft schön, was bei der SPD auf harte Kritik trifft. (Vorwärts 9.1.1901) Reichskanzler Bernhard von Bülow interveniert am 13. Dezember 1906 gegen die widerspenstigen Abgeordneten des Reichstages:
SPD, das Zentrum, mit ihnen Posadowsky, und die Fraktion der Polen lehnen am 13. Dezember 1906 in zweiter Lesung den Nachtragshaushalt für das Kolonialamt zur Lösung der Finanzierung des Kolonialkrieges in Südafrika in Höhe von 29 Millionen Mark ab. Unmittelbar danach löst Reichskanzler Bülow auf Anordnung von Kaiser Wilhelm II. das Parlament auf. Als Termin für die Neuwahl des Reichstages wird der
"Der Streitpunkt, der im Winter 1906 zur Auflösung des Reichstages führte," rekonstruiert Posadowsky am 1. März 1919 im Aufsatz "Innere Reichspolitik" (74) so: Er "kann nicht als solcher betrachtet werden, bei denen es sich ernsthaft um Versagung der Mittel zur nationalen Verteidigung gehandelt hat." Wenn das der Grund nicht war, warum entstand trotzdem diese Regierungskrise? Was war dann die "eigentliche" Ursache? Es war doch wohl so, mit der Auflösung des Reichstages im Dezember 1906, hoffte man nach den Neuwahlen mit den Nationalliberalen (NLP), Deutschkonservativen (DKP) und Freisinnigen, einen konservativen Block im Reichstag formieren zu können, um auf diese Weise die Kolonial-Gegner zurückzudrängen.
Reichstagswahlen
1907 zurück
Um Reichskanzler von Bülow zu stützen, bildeten Deutsch Konservative, Nationalliberale und Linksliberale ein Wahlbündnis, dass sich gegen das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie richtete. Am
Wahltag - den 25. Januar 1907 - entscheiden sich 28,9 Prozent
der Wähler für die SPD, womit sie 2,8 Prozent der Stimmen
einbüßte und 38 Sitze verlor. Das Zentrum erreichte fast
unverändert 19,4 Prozent, die Nationalliberale Partei 14,5 Prozent,
die Deutschkonservativen 9,4 Prozent. Im Ergebnis war der Reichstag
jetzt ohne Stimmen des Zentrums mehrheitsfähig, gestützt auf:
Nationalliberale Partei + Deutsche Volkspartei + Deutschkonservative +
Freisinnige Volkspartei + Freisinnige Vereinigung.
Vom
Ergebnis tief enttäuscht, der Wahlkreis Naumburg-Zeitz
mit dem Kandidaten A. Thiele ging ebenfalls verloren, sucht die
SPD nach den Ursachen.
Es war hart. "Die "Gemäßigten" und "Taktierer"
machten, die "Radikalen", also Genossen wie Rosa [Luxemburg]
für die Niederlage verantwortlich." (Max Gallo
1988, 226)
Das "Einströmen neuer Wählermassen," meint die Volksstimme aus Magdeburg, "die bisher unterhalb des politischen Bewußtseins lebten, hat den bürgerlichen Parteien für den Augenblick ein starkes Übergewicht verschafft". "Das Kennzeichen der Wahlen", durchschaut am 28. Januar 1907 die Leipziger Volkszeitung die neue Situation, "ist das Aufhören der bürgerlichen Opposition. Was übriggeblieben, ist ein trostloser Brei." Bei
Franz Mehring (1907) fällt
die Vermessung der Wahlniederlage drastischer aus. Für ihn
ist sie Ausdruck der Hohlheit und Nichtigkeit des Geredes, als seien
die Wahlverluste eine Erfrischung oder Erneuerung des nationalen
oder liberalen Gedankens. Jetzt soll die liberale Bourgeoisie die
willige Dirne der ostdeutschen Junker spielen. Mit einem "Platzregen
notorischer Reden", heißen die konservativen "Verbündeten"
sie willkommen.
Sind jetzt endlich alle Ursachen entschlüsselt? Viele Jahre später, im März 1919 deutet Posadowsky an, was oben bereits erwähnt, dass 1906/07 noch andere Rückbindungen für die Regierungskrise existierten. Welche könnten das sein? Rechtsanwalt Doktor Bernheim stößt uns darauf. Sein Mandant Martin Gruber (1866-1936), gesetzlicher Presseverantwortliche der "Münchner Post", muss sich ab 5. Juni 1907 wegen Beleidigung vor dem Schöffengericht in München der Privatklage von Doktor Carl Peters (1856-1918) erwehren. Die Anklage präsentiert als Beweismittel die Zeitungsartikel "Hängepeters im Neuen Verein" und "Hängepeters über Nationalpolitik". In der Verhandlung, als Bernheim zur Entlastung des Beschuldigten vorträgte, röffnen sich dem Beobachter unerwartete Zusammenhänge:
Bernheim fährt vor Gericht fort:
Dass die Tätigkeit von Dr. Peters nebst Privatklage von einem außerordentlichen Interesse der Öffentlichkeit begleitet, steht außer Zweifel. Wochen vorher sind die Zutrittskarten für den Prozess bereits vergeben. Als Gäste erscheinen im Gerichtssaal unter anderen August Bebel und der Landesvorsitzende der SPD in Bayern Georg Vollmar. Die große Resonanz ist Ausdruck der wachsenden nationalistischen Stimmung und aufgekratzten, euphorischen Haltung zur deutschen Kolonialpolitik. Staatssekretär Arthur Graf von Posadowsky-Wehner vom Reichsamt des Inneren am 5. Oktober 1905 mutzt diese bei seiner Ansprache vor dem Deutschen Kolonialkongress in Berlin aus. Von Bravorufen und lebendigem Beifall begleitet, lobt er die Haltung der Kolonialtruppe. Sie erwirbt, sagt er, damit "die Dankbarkeit des deutschen Volkes für diesen Dienst am Vaterlande". Und Dr. Peters erhält im gleichen Jahr den Titel Reichskommissars a.D. und ab 1914 eine Pension. Einst bezeichnete ihn zum Ärger die "Münchner Post" als "abgeurteilt", was Verteidiger Doktor Bernheim (nach LVZ 26.6.1907) vor Gericht nun vollendet:
Bülow-Schlächterei
zurück
Verschiedentlich
liest man, manchmal nur nebulös angedeutet, dann wieder klar ausgesprochen,
Nachrichten über angebliche und wirkliche Differenzen zwischen
Bernhard von Bülow und seinem Staatssekretär des Innern.
Paul
Wittko erzählt 1925, dass Posadowsky unter Reichskanzler Carl Viktor
Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst seine "starkgeistige
und früchtereiche staatsmännische Tätigkeit ungehindert
ausüben" konnte. Als im Herbst 1900 Bernhard von Bülow
übernahm, da brachten die "Temperamentunterschiede dieser
beiden Männer bald allerhand Misshelligkeiten zu Tage".
Die politische Stimmung verschlechtert sich. Das Zentrums wird aus dem Machtzentrum abgedrängt. Anlass war vielleicht, als es im Frühjahr 1906 gegen die Errichtung eines selbständigen Kolonialamtes stimmte. Über die Kolonialpolitik treten verstärkt Differenzen an die Öffentlichkeit. Bei der Etatbehandlung im Reichstag zeigen sich verschärfte Gegensätze, an die viele bisher wenigstens in dieser Deutlichkeit nicht gewöhnt waren (DG 1906). Zum
24. Juni 1907 verlässt Posadowsky das "Staatsschiff".
Es traf ihn tief, teilte die Vossische Zeitung
fünf Tage später mit. Mit Würde
sein "hippokratisches Antlitz" tragend,
saß er während der "erregendsten Debatten
auf seinen Platz, wie der steinerne Gott. Mitunter
lächelte er still und ironisch in sich hinein ....",
um dann "wieder sein Antlitz in Falten zu legen".
Zwanzig Jahre später erinnert sich der SPD-Reichstagsabgeordneter Gustav Hoch (RT 25.2.1927, 9249), Schriftsteller und ehemaliger Schriftleiter der Frankfurter "Volksstimme", an den Sturz von Posadowsky:
"Weshalb musste er gehen," fragt die National-Zeitung am 26. Juni (1907). "Warum musste dieser Mann, dieser einsichtsvolle Politiker, dieser unermüdliche Arbeiter, dieser Minister, der wie kein andere in den unzähligen, vielverzweigten Branchen seines Ressorts Bescheid musste, der noch so voller arbeitsfreudiger Pläne für die nächste Session des Reichstages war, fallen?" In Stichworten formuliert, lassen sich sechs Gründe nennen: Spannungen zwischen Bülow und Posadowsky, Opfer der Blockpolitik, zu viel Sozialpolitik, Rivalitäten, Kolonial- und Nationalitätenpolitik. Die letzten Drei tragen spekulativen Charakter, worauf, vorweg der Formulierung im weiteren Text, hier bereits ausdrücklich hingewiesen werden soll.
[Spannungen] Zwischen Bülow und Posadowsky
traten gelegentlich einer Beratung am 28. Februar
1907 erhebliche Unstimmigkeiten auf. Rückblickend
wirft ihn der Reichskanzler vor, über eine
bestimmte Sachlage nicht ausreichend informiert
zu haben.
Außerdem
erwartete er von ihm bei der Vertretung seiner
Politik mehr Unterstützung. Der Chef wurde
krank und sein Staatssekretär für
Inneres übernahm regulär die Leitung
der Reichsgeschäfte. Obwohl hierfür
zweifellos zuständig, führte die Reichskanzlei
sie parallel und selbständig weiter. Sie
unterzeichnete Dokumente "Im Auftrage des
Reichskanzlers". Das führte natürlich
zu weiteren, ernsten Verstimmungen. (Arnim / v. Below
1925) Als dann noch bekannt wurde, dass der
Staatssekretär Bestrebungen des Zentrums
unterstützt haben soll, geredet wurde gar
über die parteipolitische Unterstützung
des Zentrums aus dem Reichsamt heraus, war das
Maß voll.
Nicht
um Unterschiede in der Popularität herauszuheben,
sondern darauf bedacht, Graf von Posadowsky
aus dem Amt zu entfernen, weist Georg Oertel
(1856-1916) im Februar 1906 darauf hin, dass
er seine Reden "anders abtönt und
zuspitzt" als Reichskanzler Bernhard Bülow
und "für zutreffende Bemerkungen von
sozialdemokratischer Seite her nicht selten
ein "Sehr richtig!" erntet."
(VS 13.2.1906)
[Opfer der Blockpolitik] Zur "Vorgeschichte des Ministerwechsels" gehört, berichtet sie weiter, dass die Position des Staatssekretärs des Inneren seit seinen skeptischen Bemerkungen in einer Reichstagsrede zur "Blockpolitik" erschüttert war. "Den Kaiser, der sich vollständig auf den Boden der Blockpolitik gestellt hat, an der auch heute festhält, hatte diese Rede sehr unangenehm berührt." Weil er sich davon nicht mit Entschiedenheit und Deutlichkeit distanziert, "musste er fallen als ein Opfer der Notwendigkeit der unbedingten Einigkeit in der Regierung". Aber es ist nicht so wie die Vossische Zeitung es am 29. Juni 1907 kommentiert, dass er die Kriegserklärung an das Zentrum mit seinen 105 Abgeordneten nicht verstanden und nicht billigte. Verstanden hatte er wohl, nur ein radikaler Bruch mit ihm, worauf Kaiser und Reichskanzler abzielen, kommt ihn absolut ungelegen, weil ohne sie seine Sozialpolitik nicht mehr durchsetzbar ist. Deshalb ist er gegen die Auflösung des Reichstags. Der Abschied als Staatssekretär des Innern wäre dann, um es zu wiederholen, tatsächlich ein Opfer an die Blockpolitik. Aus Anlass der Entlassung von Posadowsky fällt ganz vage der Name "Hermann Lucanus" (1831-1908) (Freie Stimmen 1908). An andere Stelle munkelt man von einer "insgeheim durch den Staatssekretär des Inneren" unterstützte Beförderungspolitik (Über die neuen Männer 1907). [Zuviel Sozialpolitik] Nach Ansicht der Deutsch-Konservativen und bestimmten Linksliberalen Gruppen wurde Zuviel Sozialpolitik geübt, weshalb sie den weiteren Ausbau der Sozialgesetzgebung und Staatsinterventionismus ablehnten (Einleitung 1987, 5). Seine
Gegner nutzen die sich ausbreitende Abnutzungsstimmung.
"Es soll nicht geleugnet werden," kommentieren
"Die Grenzboten" aus Leipzig die Lage, "dass
die Auffassung ziemlich verbreitet ist,
es
werde etwas zuviel Sozialpolitik getrieben;
weder sei es in den betreffenden Bevölkerungskreisen möglich, sich in die Fülle der neuen Gesetze und Verordnungen einzuleben, noch werde damit irgendwelcher Einfluß auf die Sozialdemokratie selbst und bis zu dieser bisher noch nicht gehörenden Arbeiterschaft erreicht." Erstaunlicherweise fügen sie noch an: "Staatssekretär Posadowsky hat es bei seiner außerordentlichen Hingebung beim Zolltarif um die Konservativen wahrlich nicht verdient, dass diese im Parlament und in der Presse gegen ihn Front machen, wobei diese Frontstellung bis weit in die nationalliberalen Kreise Verlängerung findet." (DG 1906)
[Rivalitäten] Gewiss spielen beim seinem Sturz Rivalitäten eine Rolle. Die Freie Presse aus Wien tratsch am 25. Oktober 1900 aus, dass Graf Posadowsky und Miquel nicht nur stille Rivalen für das Reichs-Kanzleramt sind, sondern noch als Bülow´s Rivalen gehandelt werden. "Man hatte freilich dem Kaiser geflissentlich eingeredet," erzählen am 3. Juni 1930 die Danziger Neueste Nachrichten, "dass der Graf krankhaft ehrgeizig sei und durchaus Kanzler werden wolle. Unter Hohenlohe war er verschiedene Male dicht dran, den Posten zu bekommen, bis Bülow als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes die Gunst des Kaisers erwarb und Dauphin der Wilhelmstraße 77 wurde." "Auch bei der "unerhört rücksichtslosen" Verabschiedung des Grafen Posadowsky nach vierzehnjähriger Tätigkeit als Chef eines Reichsamtes spielte der Umstand eine Rolle, daß - wie Berkheim berichtet - "der Graf Posadowsky dem Kaiser persönlich nie recht sympathisch war" und daß "ganz speziell" das merkwürdige, laute und sich überall vordringende Wesen" der Gräfin Elise von Posadowsky "S.M. niemals sympathisch gewesen sei."" (Nach Röhl 1987, 136) [Kolonialpolitik]
Die
Direktive vom Dienstherren Bernhard von Bülow lautete 1906 (3958):
"Die Frage steht nicht so: ob wir kolonialisieren wollen oder
nicht, sondern wir müssen kolonialisieren, ob wir wollen oder
nicht." In dieser Frage sind zwischen dem Reichskanzler und seinem
Stellvertreter gewisse Unterschiede zu erkennen. Erhärten lassen
die sich speziell mit Passagen aus der Bielefelder-Rede von
1911. Allerdings, und dies erschwert ihre Interpretation bis zur logischen
Unauflösbarkeit, stehen die Bielefelder-Aussagen zur Kolonialpolitik
nicht im Gleichklang mit den Ausführungen vom 18. Januar
1912 im Volkshaus zu Jena, wo man ihn so zitieren kann:
"Wir müssen verlangen, dass wir an der noch nicht besetzten Erde unseren Anteil haben. Wir können uns nicht ausschließen lassen, wir haben einen Anspruch auf Kolonien, wo der Deutsche arbeiten und Leben kann." [Nationalitätenpolitik] Unterschiedlich Ziele zwischen Bülow und Posadowsky deuten sich vage zur Revision der Nationalitätenpolitik an. Bülow bringt, wie oben bereits dargelegt, am 26. November 1907 in das preußische Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes ein, dass es erlaubt, polnischen Grundbesitz zu enteignen. Die Opposition wettert. Mit dem Blick auf die Reichstagswahlen droht am 27. Februar 1907 Ferdinand von Radziwill (1834-1926), Abgeordneter für den Wahlbezirk Adelnau, Schildberg, Ostrowo und Kempen in Posen und Vorsitzende der Polnischen Fraktion im Reichstag:
War das alles nach Art und Geschmack eines Posadowsky-Wehner? Zunächst war kein Anhaltspunkt zu finden, dass die Einkreisungs-Doktrin etwas zur Aufhellung des Rücktritt vom Amt als Staatssekretär des Inneren im Juni 1907 beitragen könnte. Wenn man es etwas komplexer betrachtet, dann vielleicht doch? Posadowsky wird von Freund und Gegner als ehrgeizig charakterisiert. Er wolle sogar Kanzler werden, kolportierte man in politischen Kreisen nach Art des Schweizer Telefonrundspruchverfahrens. Wollte er das wirklich? - Da war der forcierte Flottenbau, die Entfremdung von England, Hänge-Peters und die deutsche Kolonialpolitik, die Eroberung von Tsingtau (Qingdao) und der chinesische Widerstand gegen die Unterdrückung, Ausbeutung und christliche Missionierung durch den Westen. Und im deutschen Lande infolge des umsichgreifenden, einengenden Nationalismus alldeutscher Art, die jetzt immer öfter anzutreffende Selbstüberschätzung der wirtschaftlichen Kräfte. War das die Politik für einen künftigen Kanzler Arthur Graf von Posdowsky-Wehner?
Der Sturz zurück "Sein Sturz entspricht", schaltet sich am 25. Juni 1907 die Volksstimme aus Magdeburg ein, "mehr noch als den Wünschen des Fürsten Bülow jenen der scharfmacherischen Reichspartei, die den ehemaligen Vertreter der Zuchthausvorlage, den Hauptmitarbeiter des Hochschutzzolltarifs, den Vertrauensmann der Landbündler und Industriebündler, seit er sich in der Auffassung seines Amtes zu etwas modernen Anschauungen gewandelt hatte, als ihren Todfeind zu behandeln pflegte."
"Über die Entlassung von Posadowsky", reicht am 26. Juni 1907 das Jenaer Volksblatt nach, "ist noch zu bemerken, dass er schon längst all den Kreisen der Großindustrie und des unsozialen Junkertums verhasst war, denen selbst die unvollkommene, zögernde und reaktionäre Sozialpolitik Posadowsky noch zu "revolutionär" erscheint." Besonders von den Montanindustriellen, bekam der Sozialpolitiker den Unwillen zu spüren. Mit ihm scheidet ... aus der Reichs- und preußischen Staatsregierung, bemerkt die Volksstimme (Magdeburg) drei Tage später, "die einzige bedeutende Persönlichkeit, der letzte, dem auch der Gegner Achtung entgegenbringen konnte." "Wenn soll denn eigentlich der Ministerwechsel zufriedenstellen," fragt am 26. Juni (1907) die National-Zeitung, "wenn nicht die Kreise, die seit langem einen Stillstand der Sozialpolitik ein schärferes Vorgeben gegen die Sozialdemokratie verlangen." Die nachgesuchte Dienstentlassung, so heißt die amtliche Formulierung, ist am 26. Juni 1907 erteilt worden. Nachfolger wird der preußische Polizeiminister und spätere Reichskanzler Theodor von Bethmann Hollweg. Der Staatssekretär des Inneren ist am Tag des Rücktritts 62 Jahre alt. Er verlegt jetzt seinen Wohnsitz nach Naumburg an der Saale, wo er bereits seit 1901 dem Domkapitel angehört. So schnell ist seine Entlassung nicht vergessen. Zum Beispiel kommt sie am 7. Februar 1913 wieder im Bericht zur Reichstagssitzung unter der Überschrift "Kampf um die Macht" aufs Tape: "Das Auftreten des Staatssekretärs Dr. Delbrück erinnerte an die letzte Rede, die im Reichstage sein Amtsvorgänger Graf Posadowsky als Staatssekretär gehalten hat. Auch Graf v. Posadowsky erklärte damals den ostdeutschen Junkern, dass er ein "grundsätzlicher" Gegner ihrer Politik sei. Er wolle kein Minister gegen, sondern für die Sozialpolitik sein. Herr von Delbrück hat am Freitag [den 7. Februar 1913] dasselbe, wenn auch mit anderen Worten gesagt. Graf v. Posadowsky war kurze Zeit nach jener Rede aus seinem Amt ausgeschieden worden."
"Die
Wohnungsfrage Besonders in den industriellen Zentren Deutschlands herrscht große Wohnungsnot. Kinderreiche Familien, Geringverdiener, Erwerbslose, Invalide, und Greise hausen in Löchern mit stickiger Luft und unzureichendem Sanitär. Alkoholismus und andere die Gesundheit zerstörende Laster haben in nicht unerheblichem Maße hier ihre Ursache. Der Mangel an gesunden, hellen Kleinwohnungen, läßt die Mieten weiter in Höhe steigen. Seit 1863 spricht man von "Trockenwohnern". Ein Begriff, der von Satirezeitschrift Kladderadatsch eingeführt und sich zur kulturkritischen Metapher mauserte. Allmählich scheint sich in der Öffentlichkeit eine neue Sichtweise durchzusetzen. "Es ist in immer tiefere Kreise unserer Bevölkerung das Bewusstsein eingedrungen," beobachtet Posadowsky, "dass ein großer Teil der körperlichen und sittlichen Leiden der minderbemittelten Schichten aus den ungenügenden Wohnverhältnissen hervorgeht, die namentlich in den großen Städten bestehen. (Lebhafte Zustimmung rechts und links im Zentrum)." (RT 6.2.1913, 3549) Daß die Lösung der Wohnungsfrage für die Schloß-Besitzer anders aussieht als für die Arbeiter in Berlin und Leipzig, war ihm immer gegenwärtig, ohne das er der Versuchung verfiel, sich in den Klassenkampf zu stürzen. Aber er tritt, anerkennt 1907 die "Volksstimme" aus Magdeburg, der Ausbeutung der Mieter durch die Hausbesitzer und Grundbesitzer entgegen. Die Wohnungsfrage ist von enormen und nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Festigkeit und Tiefe politischer Überzeugungen der besitzlosen Klasse zu Staat und Regierung. "Es ist nicht das Denken der Menschen, das ihr Sein bestimmt, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Denken bestimmt", formuliert 1859 von Karl Marx als Faustformel in der Zur Kritik der politischen Ökonomie. Um es mit Posadowsky Worten auszusprechen: "Eine kräftige bäuerliche Siedlungspolitik in allen Teilen Deutschlands und eine großherzige Wohnungspolitik könnte einen entscheidenden Einfluss auf die politische Zukunft unseres Vaterlandes ausüben." (Posa, RT 1913, 3549) Rückt er deshalb die Wohnungspolitik in den Mittelpunkt? So könnte man schlußfolgern, unterstellt dabei aber unausgesprochen eine entsprechende pragmatische Konvention. Dabei wäre aber zu beachten, dass sein persönliches Motiv weder ökonomisch noch vorrangig machtpolitisch geprägt ist. Vielmehr verflechten sich in ihm normative Ansprüche an die gesellschaftliche Moral - Anstand, Altruismus, Mitleid - kombiniert mit einem komplementären christlichen Menschenbild und stimulierenden ökonomischen Leitorientierungen. Die Wohnung bleibt der funktional-soziale Raum für die Gestaltung des familiären und persönlichen Lebens. Hundert freundliche Arbeiterhäuschen lösen das Problem nicht. Geräumige, hygienisch einwandfreie Großblöcke sind für den sozialen Wohnungsbau der Maßstab der Stunde. Posadowsky konzentriert sich auf die Bedürfnisse der Arbeiter und kleinen Angestellten, rückt sie in das politische Zentrum der Wohnungspolitik und unterbreitet folgende Vorschläge: gesetzliche Festlegungen zum Bau von ausreichend Kleinwohnungen, Wahrung des Gleichgewichts zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung (unter Beachtung der Geburten- und Sterberate sowie der Nachfrage an wachstumsbedingten industriellen Arbeitskräften), finanzielle Förderung des Wohnungsbaus für die minderbemittelten Schichten, Zweck und Mittel der gesetzlichen Förderung des Wohnungsbaus müssen in sachlicher Übereinstimmung mit den Notwendigkeiten zur Behebung der Wohnungsnot stehen, Senkung der Mieten für die Reichs- und Kommunalangestellten, also Bau von staatlichen Wohnungen, kein zusammendrängen der minderbemittelten Klassen in weit entfernten Vororten, städtische Wohnungspolitik unter Förderung und Nutzung des Erbbaurechts. Das Erbbaurecht ist [a] für die Städte, bedrängt er abermals am 28. Februar 1912 den Reichstag, die möglichst große Ländereien erwerben, das geeignete Mittel, um auf dem Wege des Kleinwohnungsbaus für die minderbemittelten Volksklassen gesunde und preiswerte Wohnungen zu schaffen. Allerdings müssen dazu die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Erbbaurecht entsprechend ergänzt werden. [b] Die Städte können die Aufgabe nicht alleine lösen. Das Großkapital muss Mut und Luft haben, die Förderung des Wohnungsbaus mittels dem Erbbaurechts zu unterstützen. Nach seinen Erfahrungen, ist die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem nur mittels öffentlicher und privat-unternehmerischer Investitionen möglich. Durch entsprechende Ergänzungen der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches würde sich, dass Großkapital interessiert zeigen. Zurzeit ist das nicht der Fall, weshalb rechtlich an der Liquidität der Anlagen oft Zweifel bestehen.
Vom 16. bis 19. Oktober 1904 findet in Frankfurt am Main der Erste Allgemeine Deutsche Wohnungskongress, statt, den Posadowsky nachdrücklich unterstützt. Zur Eröffnung füllt sich ein riesen Kongressaal bis auf den letzten Platz. Erschienen sind Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, zum Beispiel der Nationalökonom und Sozialreformer Professor Lujo Brentano, der Journalist und SPD-Mitglied Albert Südekum, der Arzt und Soziologe Franz Oppenheimer, Doktor Baumert, als Syndikus der Hausbesitzervereine aus Berlin-Spandau sowie Fachleute aus der Wohnungswirtschaft. Eine bunte Gesellschaft. Tief bewegt sind die Kongressteilnehmer von Berichten über das Schlafgängerwesen oder die Not einer Familie mit 10 Personen, die nur in einem Zimmer lebt. Die Spaltung der Versammlung tritt in dem Moment ein, als der Organisationsausschuss des Allgemeinen Deutschen Wohnungskongress nur eine von ihm zugelassene Erklärung zur Abstimmung zulassen will. Dagegen protestiert die sozialdemokratische Gruppe und veröffentlicht am Sonntag, den 18. Oktober ein Dokument, worin sie den preußischen Wohnungsgesetzesentwurf zur Linderung der Not als völlig ungeeignet bezeichnet, weil der Landtag die Klassenprivilegien pflegt und die Gemeinden rücksichtslos das Hausbesitzervorrecht realisieren. Unschwer sind in den Debatten und Ergebnissen des Wohnungskongresses die tiefen Gegensätze und Unterschiede erkennbar, die in der Gesellschaft allgemein und bei den verantwortlichen Fachpolitikern zur Lösung des Wohnungsproblems als soziales Problem bestehen.
5. Januar 1910 bittet der Bayerische
Verband für Wohnungsförderung Die Wohnungsfrage
Nach Analyse einiger Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, klingen bald kritische Untertöne zur Kolonialpolitik an: In den besten Kolonien, wie Südwestafrika, die 26 Jahre zu Deutschland gehören, siedelten lediglich 6 210 Deutsche, während sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 18 Millionen erhöhte. "Auch die wärmsten Vertreter einer starken Kolonialpolitik werden hiernach die Hoffnung kaum mehr aufrechterhalten können, dass unsere Kolonien imstande wären, einen irgendwie nennenswerten Teil unserer wachsenden Bevölkerung aufzunehmen." Wenn wir den jetzigen Kulturstand halten wollen, kalkuliert der Graf, dann müssen ausreichend Wohnstätten geschaffen werden, die den gesundheitlichen und sittlichen Anforderungen genügen. Gegenwärtig lebt die Stadtbevölkerung zu vier Fünftel in Kleinwohnungen mit zwei bis drei Räumen. "Aber nur in sehr großen Entfernungen von ihrer Arbeitsstelle können sie sie finden `zum Schaden ihrer Arbeits- und Nachtruhe und ihres Familienlebens`". Etwa 63 Prozent der Bevölkerung leben in Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. In einzelnen Orten sind sie bis zu 59 Prozent mit zwei, ja sogar mit drei Schlafgängern belegt, was "die kaum glaubliche Zerrüttung des Familienlebens in den Arbeiterfamilien" bedingt. Staat, Städte und Gemeinden müssen deshalb eine neue Richtung im Wohnungsbau einschlagen. "Während in dem hochindustriell entwickelten Belgien, in Brüssel, auf ein Haus nur 9, in Gent 5, in Antwerpen 7, in Lüttich 8, Bewohner entfallen, treffen in Westfalen in grösseren, selbst mittleren Instriestädten 20-22 Bewohner auf das Haus, und zwar von Häusern im ganz geringen Umfang." (Wohnungsfrage 5.2.1911, 83) "..... gerade von der Entwicklung des Erbbaurechts, glaube ich," präzisiert er am 6. Februar 1913 (3548) vor dem Reichstag seine Vorstellungen, "ist eine sehr wirksame Förderung des Wohnungswesens zu erwarten; denn das Erbbaurecht hat den großen Vorzug, erstens, dass das bebaute Grundstück nicht aus dem Hypothekenverbande des Stammgrundstücks ausgelöst zu werden braucht; ferner erlaubt es auch minder bemittelten Personen, ein derartiges Grundstück im Wege des Erbbauvertrages zu erwerben, weil kein Kapital zu zahlen ist, sondern nur eine fortlaufende Rente, und endlich hat er für den Besitzer des Grundstücks den wesentlichen Vorteil, dass er Eigentümer seines Grundstücks bleibt, und ihm deshalb auch der Gewinn aus der Steigerung des Preises für den Grund und Boden zufließt, sobald die Erbbaufläche nach Ablauf des Erbbauvertrages wieder in sein Eigentum zurückkehrt." Um den Wohnungsbau mit angemessenen Preisen realisieren zu können, müssen die Gemeinden endlich reichlich und vorsorgend Grund und Boden ankaufen. Für dringend notwendig hält er den Bau von Wohnungen für Reichsangestellte, damit, wie er es ausspricht, die Mieter der Ausbeutung durch die Hausbesitzer und Grundeigentümer entrinnen können. Über den Münchner Vortrag 1910 fällt die sozialdemokratische Wochenschrift Die Neue Zeit (1910) ein vielsagendes Urteil: "Und wenn Posadowsky noch nicht a. D. wäre, die Kreise, deren Interessen er als Minister vertreten hat, würden, ihn nach dieser Rede schonungslos wegjagen. Doch freilich als er noch im Amte war, hat er an den geheiligten Privilegien der Kapitalisten nicht gerüttelt."
Auf dem Zweiten Deutschen
Wohnungskongress hält Doktor Graf von Posadowsky-Wehner als Ehrenpräsident die Eröffnungsrede. Er ist Fachmann auf dem Gebiet der Wohnungs- und Wohnungsbaupolitik, was in der deutschen Presse weithin Beachtung findet. Der ehemalige Staatssekretär und Stellvertreter des Reichskanzlers fordert Wohnungsgesetze und Vorschriften, die sicherstellen, dass gewisse mit dem Bebauungsplan einbezogene Landstücke nur mit Kleinwohnungen bewirtschaftet und die darauf errichteten Häuser ebenfalls nur als Kleinwohnungen benutzt werden dürfen. Interessant, was am 25. November 1911 die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung aus Wien aus der Eröffnungsrede von Graf von Posadowsky zitiert, worauf sie also besonderen Wert legt: "Unsere ganze Arbeit in der Wohnungsfrage muss bei fortgesetzten Wachstum unserer Bevölkerung und den nicht vorauszusehenden und zu beherrschenden Gründen des Zusammenströmens immer größere Massen an gewissen Schnittpunkten unseres wirtschaftlichen Lebens eine Danaidenarbeit bleiben, wenn wir nicht unterstützt werden durch Bestimmungen eines Wohnungsgesetzes, welches nicht nur gewisse Mindestforderungen für die Herstellung von Wohnungsgebäuden aufstellt, sondern auch den Verwaltungs- und Polizeibehörden das Recht gewährt, Art und Umfang der Benützung der Wohnräume entsprechend den Anforderungen der von Sittlichkeit und Gesundheit zu regeln." Zusammenfassung: 1. Notwendig ist ein Wohnungsgesetz. 2. Staat und Kommunen müssen die Wohnungsnot ziel gerichtet bekämpfen. 3. Bei der Lösung des Wohnungsproblems sind unter allen Umständen sittliche und gesundheitliche Kriterien einzuhalten.
Reichstagsdebatte 1913 Am Freitag den 7. Februar 1913 führte der Reichstag seine Aussprache zur Wohnungsfrage fort. Der Grund für die unerwartete Ausdehnung bestand darin, dass die Junker das Thema für einen Vorstoß gegen die Reichsverwaltung und den Reichstag nutzten. Die Aufgabe übernahm Graf Kuno Westarp (1864-1945), Mitglied der Deutschkonservativen Partei (DKP) und ab November 1913 ihr Fraktionsvorsitzender im Deutschen Reichstag. Staatssekretär Clemens von Delbrück (1856-1921), Reichsamt des Innern, kündigte zuvor an, dass das Reich die Aufgaben übernehmen muss, wenn die Einzelstaaten, vor allem Preußen, dies nicht tun werden. In der Debatte entstand der Eindruck, als ob sich das Reich den Interessen der preußischen Junker fügen soll, dass nur seine Interessen und Vorteile kennt. Im Hintergrund, so Georg Ledebour von der SPD, ist der Sammelruf gegen die Arbeiterklasse und ihre Organisationen zu hören. Posadowsky versucht am 6. Februar 1913 (3548) den Streit zu beruhigen, indem er darauf hinweist, dass das preußische Wohnungsgesetz veröffentlicht und auf der nächsten Tagung des preußischen Landtages beraten werden soll. "Ich meine, man wird sich bei dieser Lage beruhigen müssen. (Sehr richtig! rechts) Wir würden indessen meines Erachtens auf die Forderung eines Reichswohnungsgesetzes zurückkommen müssen, wenn entweder jenes preußische Wohnungsgesetz eine Gestalt bekäme, die nicht den wirklichen Bedürfnissen unseres Volkes entspricht." Am 12. Oktober 1918 (138) bescheinigt er dem preußischen Wohnungsgesetz, dass es die nachteiligen "Folgen der jetzigen Wohnungsverhältnisse, unter denen namentlich die unterbemittelten Klassen leiden, durch allgemeine Ausführungsbestimmungen abhelfen" will. "Zu diesem Zweck soll der Kleinwohnungsbau durch Gewährung erheblicher Staatszuschüsse gefördert werden ...." Entscheidend ist für ihn, dass "das Wohnungsbedürfnis der minderbemittelten Klassen" in einer Weise befriedigt wird, dass den "den sittlichen und gesundheitlichen Forderungen entspricht". In der Reichstagsdebatte am 6. Februar 1913 (alles 3549) erweitert er den Ersten Hauptsatz der Sozialpolitik um die Aufgaben der praktischen Wohnungsbaupolitik. Jetzt kommt es darauf an, dass die Wohnverhältnisse in den Unterschichten und den Arbeiterfamilien schnell und spürbar verbessert werden. Denn: "Die Wohnungsfrage
ist nicht mehr eine soziale Frage "Wir unterstützen die Säuglingspflege, wir schaffen Jugendgerichtshöfe, wir verfolgen Laster und Verbrechen, damit kurieren wir aber nur auf die Symptome," schränkt Posadowsky ein, "wenn wir nicht die Hauptkrankheitsursachen, die sittliche bedenklichen Wohnungszustände, beseitigen." "Will man die Wohnungsverhältnisse der Bevölkerung positiv fördern, so muß man auch finanzielle Maßregeln treffen - und solche erwarte ich vorzugsweise von den Bundesstaaten und den Gemeinden -, die es denen ermöglichen, die nur ein kleines Sparkapital besitzen und im Übrigen für die Erfüllung ihrer Verpflichtungen nichts als ihre redliche Arbeitskraft bieten können, sich damit in unserem Vaterlande ein gefundenes Heim zu schaffen."
Preußische Wohnungs-Gesetz vom 28. März 1918 Noch bevor der Krieg beendet, erlässt Preußen am 28. März 1918 das Wohnungs-Gesetz. Artikel 1 sieht "Enteignung mit Rücksicht auf das Wohnungsbedürfnis" vor. Posadowsky stellt das Wohnungsbedürfnis der wirtschaftlichen Unterklasse in den Mittelpunkt der Bemühungen. Die Entlassung der Kriegspflichtigen und die Abwanderung vom Lande in die Industriegebiete verstärkt den Wohnungsmangel. Von jedem Zuziehenden ist jetzt ein Nachweis über eine Wohnung zu fordern oder der Arbeitgeber stellt ihm eine solche bereit. Nur so lässt sich eine gewisse Ordnung im städtischen Wohnungswesen aufrechterhalten. Gefragt ist die Verantwortung des Arbeitgebers. Das aber gemeinnützige Vereine das Risiko übernehmen, die benötigten Wohnungen auf Vorrat zu bauen, hält er für Unwahrscheinlich. Es ist dringend ein Gleichgewicht zwischen vorhandenen Kleinwohnungen und dem Wachstum der Bevölkerung zu schaffen. Vor allem müssen Kleinwohnungen gebaut werden. (Wohnungsnot und Freizügigkeit, 12.10.1918, 136 bis 139)
1920 unterbreitet Graf von Posadowsky in "Die Berliner Wohnungsfrage" weitere Vorschläge und wiederholt zunächst: "Von allen Fragen sind die Wohnungsfrage und die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs diejenigen, die am tiefsten in das Volksleben eingreifen." Typisch wieder der Realismus mit dem er vorgeht. Offensichtlich reichen, muss er registrieren, alle bisherigen Bemühungen, besonders wegen des schnellen Bevölkerungswachstums, nicht aus. Sie zeigen keinen durchschlagenden Erfolg. Und der wird weiter ausbleiben, warnt Posadowsky, solange nicht für die Benutzung der Wohnungen allgemein gültige Mindestanforderungen aufgestellt und deren Durchführung überwacht werden. Speziell für den Bau von Kleinwohnungen und deren Nutzung sind dringend Gesetze notwendig. Um zu niedrigen Mietpreisen zu gelangen, favorisiert er erneut das Erbbaurecht. "Entschließt man sich nicht zu durchgreifenden Massnahmen," warnt er, "so wird Laster und Verbrechen der Großstadt sich in einem Masse weiterentwickeln, das für das Volksleben nicht nur in den Großstädten, sondern des ganzen Landes bedrohlich wird."
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